Süddeutsche Zeitung

Pop:Spiegelscherben

Fleetwood Macs "Rumour" war einst das erfolgreichste Pop-Album überhaupt. Wie sehr sich damals die internen Exzesse und Dramen der Band in der Musik widerspiegelten, verrrät eine umfangreiche Neuveröffentlichung.

Von Max Dax

Diese Siebziger, OMG! Bis zum Bauchnabel aufgeknüpfte Hemden, herausquellende Brusthaare, müde Blicke. Und dann erst die Achtziger! Lear Jets, Kokain, Betty-Ford-Klinik, abermals müde Augen. Die britisch-amerikanische Band Fleetwood Mac, die mit Easy-Listening-Melodien und einer bis heute einzigartigen Rhythmus-Sektion weltberühmt wurde, verwandelte zwei ganze Jahrzehnte in eine egozentrische Rock-Soap-Opera, die dank einer jetzt erschienenen Werkschau im Rückblick noch einmal durchlebt werden kann.

Der Blick zurück fällt auf eine Folge von insgesamt fünf mehrfach mit Platin ausgezeichneten Alben, die Fleetwood Mac nacheinander zwischen 1975 und 1987 veröffentlichten — "Fleetwood Mac", "Rumours", "Tusk", "Mirage" und "Tango in the Night" — es handelt sich um das beispiellos erfolgreiche Mittelwerk einer Band, die bereits 1967 in London von Mick Fleetwood, John McVie und Peter Green als generische Bluesband gegründet wurde, in den folgenden Jahrzehnten aber diverse Umbesetzungen erlebte. Die bis heute prägendste Häutung erfolgte 1975, als Mick Fleetwood, John McVie und dessen Frau Christine von London nach Los Angeles zogen, um dort den internationalen Anschluss zu suchen. Fleetwood Mac fusionierten mit Buckingham Nicks, einem auch heute im Rückblick noch verzaubernden Folkrock-Duo aus San Francisco, bestehend aus dem Gitarristen und Sänger Lindsey Buckingham und der Sängerin Stevie Nicks, die auch privat ein Paar waren.

Das Besondere an "Rumours" ist der Wahnsinn, der sich hinter den Kulissen abspielte

Dieser Fun Fact ist insofern wichtig, als dass Fleetwood Mac bis zum heutigen Tag als größte Rock-Seifenoper der Siebziger- und Achtzigerjahre gelten, weil die nahezu gleichzeitig erodierenden Partnerschaften der Protagonisten im Schatten des Welterfolgs zugleich zum Thema wie zum Bindemittel ihrer episch-introspektiven Musik wurden. Das Album "Rumours" aus dem Jahr 1977, das jetzt in einer 4-CD-Version mit kübelweise Outtakes, Live-Aufnahmen und Demoversionen neu aufgelegt wird und bis zur Veröffentlichung von Michael Jacksons "Thriller" für ein paar Jahre die Liste der erfolgreichsten Pop-Alben aller Zeiten anführte, markiert das Epizentrum von Fleetwood Mac. Das Besondere an "Rumours" ist der schier unglaubliche Wahnsinn, der sich hinter den Kulissen abspielte. Die Formel des Erfolgs: Je softer die Musik, desto psychotropischer die Drogen. Insgesamt stehen Fleetwood Mac mehr als jede andere Band ihrer Zeit für ausufernden Exzess und Gigantomanie: Lear Jets, Kokain in Großhandelsmengen, exzessive Welttourneen, jahrelange Studioaufenthalte, monatelange Auszeiten in den Präsidentensuiten exklusiver Luxushotels.

Zieht man den Fokus indes weg vom sanguinischen Hedonismus und blickt auf die Musik, offenbart sich, dass das Rückgrat der Band, bestehend aus Schlagzeuger Mick Fleetwood und Bassist John McVie, zu den beständigsten und besten der Welt zählt. Es gibt vermutlich keine zweite Band, die im Laufe der Jahre den Austausch diverser Sänger(innen), Komponisten und Lead-Gitarristen hat verkraften können und doch sofort auf den ersten Beat am furztrockenen Schlagzeug-Bass-Sound erkennbar bleibt. Von den Sechziger- bis Achtzigerjahren heißt es, es waren die Jahrzehnte, in denen die Produzenten für den Erfolg ihrer Schützlinge verantwortlich waren — von Phil Spectors "Wall of Sound" für Ike und Tina Turner in den Sechzigern bis hin zu Trevor Horn und Frankie Goes to Hollywood in den Achtzigern. Produzenten erfanden und perfektionierten den Signaturklang der Stars.

Bei Fleetwood Mac bekamen die Co-Produzenten eher die Rolle von Satelliten mit Anwesenheitspflicht zugewiesen, die für die Kommunikation unter den zerstrittenen Bandmitgliedern und die permanente Verfügbarkeit von "Erfrischungen" zuständig waren. Das Rhythmusgefüge, das die Band wie auch die Songs zusammengehalten hat und jeden Stimmungswechsel und jede Nuance im Gesang von insbesondere Stevie Nicks in ein größeres Ganzes einzubetten vermochte, war Fundament und Lebensversicherung der Band. Die übrigen Feinheiten steuerte mit Lindsey Buckingham der eigene Studiozauberer bei, der zunehmend auch das Gros der Repertoires komponierte. In diversen Interviews, die Buckingham im Laufe der Jahre seitdem gegeben hat, beschreibt er seine Rolle als Last Man Standing, ohne den die Summe der Einzelteile eben nicht größer und wahnsinniger geworden wäre, sondern verstreute Spiegelscherben geblieben wären.

Wenn allerdings das gegenseitige Vertrauen in filigrane Familienstrukturen dieser Art verloren geht, werden Studioaufenthalte und ungebremster Zugang zu Kokain und Brandy zur Hölle. Fleetwood Mac erarbeiteten ihre Songs in den Siebzigerjahren vor Ort im Studio, lebten quasi in den Blasen ihrer aufwendigen Plattenproduktionen. Insbesondere die elf Songs auf "Rumours" bilden, mal mehr, mal weniger verschlüsselt, die komplizierten Bewusstseins- und Abhängigkeitszustände der Bandmitglieder untereinander ab — das Album gilt als softrockender Maßstab in puncto Emotionen, pendelnd zwischen Amphetamin-Highs und grenzenlosen Tiefs, resultierend aus persönlichen Demütigungen und Verletzungen.

Es sind eben diese tiefen und wohl auch echten Reste von Gefühlen, damals gespeist aus verzweifelten Tagebucheinträgen von Nicks, McVie und Lindsey, die die bis heute spürbare Faszination für Fleetwood Mac begründen. Vor allem auf "Rumours" finden sich Songzeilen im Dutzend, die für die Ewigkeitgeschrieben wurden. In dem Song "The Chain" singt Lindsey Buckingham die vergifteten Zeilen: "And if, you don't love me now / You will never love me again / I can still hear you saying / You would never break the chain." Und Stevie Nicks beschließt das Album mit dem vielleicht schönsten und verführerischsten Song, der je über das weiße Gift geschrieben wurde, "Gold Dust Woman", die Ode an eine Frau, die in der Apathie eines Kokainrauschs das Scheitern der eigenen Liebesbeziehung betrachtet — und doch aufrecht weitergeht.

Bill Clinton wählte 1993 "Don't Stop" als Botschaft seiner Wahlkampagne aus

Die fünf Erfolgsalben von Fleetwood Mac, die jetzt als schier endloser musikalischer Tranquilizer in opulenter Verpackung und als Beigabe mit vielen tatsächlich hörenswerten und interessanten Outtakes, Live-Aufnahmen und Demo-Versionen unzähliger Hits veröffentlicht werden, erinnern uns an eine vergangene Zeit. Es war die Zeit der alten Übersichtlichkeit, und das lag teilweise auch an der Omnipräsenz nur weniger, dafür umso prägendender Radiosender, die mit den Hits von Fleetwood Mac im Wortsinne den Äther verstopften. Für deren Sound sind viele Begriffe gesucht und gefunden worden: Easy Listening, Middle of the Road (MOR), Adult Orientated Rock (AOR) oder auch einfach nur Mainstream. Sie alle stehen für Abschalten, Abstumpfung und Verdrängung — oder auch für die große Koalition der radiohörenden Mitte.

Vielleicht auch um die umkämpften Wechselwähler in der Mitte zu erreichen, wählte der damalige Präsidentschaftskandidat Bill Clinton mit "Don't Stop" einen weiteren Hit von "Rumours" als offizielle, betont fröhliche Botschaft seiner Wahlkampagne aus. Dessen Zeilen "Don't stop / Thinking about tomorrow / Yesterday is gone" indes blicken nur vermeintlich in die Zukunft, eher schon verschließen sie die Augen vor der Gegenwart. "Don't Stop" ist vor allem aber auch ein Ohrwurm, den Fleetwood Mac 1993 gemeinsam mit Michael Jackson zu Clintons Amtseinführung in Washington sangen. Man könnte meinen, es sei ein Jahrhundert seitdem vergangen, so sehr haben sich die Welt, Amerika, der Westen verändert.

Stevie Nicks, die ihre Kokainsucht in den Neunzigerjahren mit einer ärztlich verordneten, aber fast tödlich verlaufenen Tranquilizer-Abhängigkeit zu bekämpfen versuchte, ist heute wie die übrigen Mitglieder clean. Auf die Frage, warum sie bisher noch nicht ihre Memoiren veröffentlicht habe, antwortete Nicks stets: "Weil ich mich an kaum noch etwas erinnere."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4741599
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 02.01.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.