Süddeutsche Zeitung

Pop:Soll das Werk den Meister loben?

Michael Jackson ist zum Problem für Radiosender geworden: Wie begründen sie nach den schweren Missbrauchsvorwürfen gegen den King of Pop, dass seine Hits nach wie vor gespielt werden?

Von Maximilian Senff

Michael Jackson hat im Jahr 2009 mehr als zwei Milliarden Dollar verdient, da war er schon tot. 2018 waren es 400 Millionen. Das Wirtschaftsmagazin Forbes veröffentlicht auch Listen mit den erfolgreichsten toten Prominenten.

Zu Lebzeiten hatte sich Michael Jackson die Rechte an den Songs der Beatles gesichert. Deren Verkauf im Jahr 2016 brachte den Jackson-Erben rund 750 Millionen Dollar. Die Rechte an Jacksons eigenen Songs liegen dagegen weiterhin bei seiner Familie. Das lohnt sich. Jacksons Hits gehören immer noch zu den am häufigsten gewünschten Liedern im Radio. Die großen deutschen Formatradios spielen sie weiterhin uneingeschränkt. Daran hat selbst die Dokumentation "Leaving Neverland", die Anfang 2019 erschien und in der Jackson sexueller Missbrauch vorgeworfen wird, nichts geändert.

Regelmäßig führen Radiosender Umfragen unter ihren Hörern durch. Dabei werden auch die beliebtesten Songs ermittelt. Michael Jacksons Lieder sind immer mit dabei. Die Kontroversen um einen Künstler, schwerste Vorwürfe glaubhafter Zeugen mindern das Interesse der Hörer offensichtlich nicht. Sie scheinen Kunst und Person tatsächlich zu trennen.

Kurz nach dem Erscheinen jener Neverland-Doku standen die Verantwortlichen vieler Radiostationen vor der Frage, wie sie darauf reagieren sollten. Konsequenzen zogen jedoch die wenigsten.

"Eins möchten wir klarstellen: Michael Jackson im Programm zu spielen, bedeutet nicht, dass wir Kindesmissbrauch tolerieren. Die Songs von Michael Jackson gehören jedoch nach wie vor zum Kulturgut unserer Zeit - und unsere Hörer lieben seine Musik.", sagt etwa Ralf Zinnow, Chefredakteur des Privatsenders Antenne Bayern, "Die Dokumentation brachte keine neuen Beweise, und die Familie Jackson dementiert die Anschuldigungen. Die Songs nicht zu spielen, käme einer Vorverurteilung gleich. Daher haben wir uns unter Abwägung aller Aspekte dafür entschieden, das musikalische Werk von Michael Jackson weiter in der Rotation zu belassen."

Marc Haberland, Programmgeschäftsführer von 104.6 RTL, einem privaten Sender der "RTL Group", Europas größtem Betreiber von werbefinanziertem Privatfernsehen und -radio, sagt, sie hätten sich bei Jackson auch an der Konkurrenz orientiert. Zwei der vier zum Haus gehörenden Sender spielen seine Songs weiterhin. Für die Struktur der anderen beiden Stationen wäre die Musik zu alt. Auch Haberland spricht von einem konkreten Wunsch der Hörer: "Das Radio hat eine sehr präzise Marktforschung. Sie ergibt, dass das Publikum Michael Jackson weiterhin hören will." Bis jetzt habe es kein negatives Feedback auf die Entscheidung gegeben, Jackson nicht aus dem Programm zu nehmen. Teilt auch der öffentlich-rechtliche Hörfunk diese Sicht?

"Wir haben das Thema in unserer Redaktion besprochen", sagt auf Anfrage Holger Lachmann, Leiter der Musikredaktion von Antenne Brandenburg und rbb 88.8, "da es auf die Vorwürfe gegenüber Michael Jackson kein wirkliches Echo seitens der Hörer gab, spielen wir die Songs weiter." Auch Lachmann verweist auf die Beliebtheit bei den Hörern und auf deren Differenzierung zwischen Kunst und Person. "Viele wurden mit Michael Jacksons Musik sozialisiert, die Popularität ist da heute ungebrochen", sagt er, "der Mann ist nicht verurteilt. Auch zu Lebzeiten hatte er viele Prozesse, die jedoch immer eingestellt wurden. Es gilt auch posthum die Unschuldsvermutung. Es ist keine Frage, dass wir seine Musik spielen."

Gregor Friedel, Musikchef von SWR3, schließt sich an: "Es ist so schwer, hier eine richtige Antwort zu finden." Auch bei ihnen seien die Vorwürfe gegenüber Jackson ein Thema in der Redaktion gewesen: "Welche Aussagen sind richtig? Die alten, die Michael Jackson zumindest von sexuellen Übergriffen freigesprochen haben, wenngleich seine Suche nach der Nähe zu Kindern mindestens irritierend war, oder die neuen Vorwürfe, die aus dem musikalischen Ausnahmetalent ein Monster machen? Sollten diese Vorwürfe zutreffen, ist es schrecklich, was den Kindern angetan wurde. Sollten die Vorwürfe nicht zutreffen, wird hier ein musikalisches und kulturelles Erbe, vor allem aber ein Mensch post mortem beschädigt."

Für den Sender sei Jacksons Musik zwar nicht programmprägend, aber sie spielen seine Lieder trotzdem. "Auch, wenn das Fehlen finaler Beweise kein Freispruch ist, war dies der ausschlaggebende Faktor für die Entscheidung, Jacksons Songs nicht aus dem Programm zu nehmen. Hier gilt es abzuwarten, ob es eine neue juristische Bewertung gibt", sagt Friedel.

Die Meinungen, egal ob privat oder öffentlich-rechtlich, scheinen ziemlich einheitlich zu sein. Bei den Programmverantwortlichen hat durchaus eine Sensibilisierung stattgefunden. Das Hörerinteresse ist aber nach wie vor ungebrochen. Martin Wagner, Hörfunkdirektor des Bayerischen Rundfunks, fasst zusammen: "Die Musik von Michael Jackson taucht ohnehin nicht mehr in allen Hörfunkprogrammen des BR auf - und wenn, werden wir, was den Einsatz und die Moderation angeht, sensibel damit umgehen. Eine Entscheidung, generell keine Jackson-Songs mehr zu spielen, gibt es bislang nicht."

Wie in vielen anderen Branchen auch, gilt für den Hörfunk, dass - neben der juristischen Versicherung, nichts Unrechtes oder ethisch Fragwürdiges zu tun, letztlich die Meinung der Konsumenten, der Hörer, den Ausschlag gibt für die Entscheidung der Produzenten. Es mag kleinere Sender geben, die sich dem verweigern. Für Formatradios jedoch ist die Masse entscheidend. Und diese signalisiert eine reflektierte Differenzierung zwischen Kunst und Person. Das Bild zeichnet sich klar ab. Michael Jackson, mit dessen Musik große Teile der Gesellschaft erwachsen wurden, wird weiter im Radio laufen. Bis es keine Hörer mehr gibt, die mit ihm gereift sind. Dann wird er ins Nischenprogramm rücken. Und wohl auch in die Hitparaden. So wie Elvis Presley, der immer noch alljährlich unter den fünf bestbezahlten toten Promis rangiert.

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Quelle:
SZ vom 29.07.2019
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