Meine Güte, denkt man sich schon nach zwanzig Sekunden, ist das Musik für eine Autowerbung? Der Soundtrack für einen Oktoberfest-Autoscooter? Tja, nein. Es ist tatsächlich das erste Studio-Album vom alten Syntie-Disco-König Giorgio Moroder nach mehr als dreißig Jahren: "Déjà Vu" (Sony Music). Aber weil man davon ausgehen kann, dass dieser Mann genau weiß, was er tut, ist - nach dem ersten Schrecken - womöglich erst mal die Frage, warum Moroder tut, was er tut, viel interessanter als die Frage, warum das mitunter kaum auszuhalten ist.
Unter Popmusik-Produzenten gilt schließlich die Faustregel: Wenn ein Song in den USA, also auf dem immer noch wichtigsten Markt für Popmusik, auch nur den Hauch einer Chance haben soll, dann muss es doppelt knallen. Die Beats müssen lauter, die Melodien exaltierter und die Dynamik komprimierter sein. Einerseits. Andererseits muss die Produktion feiner, das Harmoniefundament interessanter und der Gesang professioneller sein.
Früher analysierte Moroder nächtelang aktuelle Radiohits
Der 1940 im deutschsprachigen Südtirol geborene Giovanni Giorgio Moroder, der mit 19 auszog, um als Unterhaltungsmusiker sein Geld zu verdienen, und am Ende in München die moderne Mainstream-Popmusik erfand, hat das alles jahrelang genau beobachtet. Und wie der Filmregisseur Roland Emmerich erkannte er, dass man die Amerikaner in ihren ureignen kulturellen Bastionen Pop und Film nur schlagen kann, wenn man sich auch ihre Mittel aneignet - und sie dann verstärkt. Moroder war schon in seinen Münchner Jahren bekannt dafür, nächtelang aktuelle Radiohits zu analysieren: ihre dominierenden Harmoniesequenzen, Bassläufe, Beats, Sounds, bis hin zur Art des gerade angesagten Gesangs.
Und dann rekombinierte er die Bausteine, die er entdeckt hatte, und fügte ein paar neue Elemente hinzu. Andere Musiker und Produzenten arbeiten intuitiv mit dem Popgeist der Zeit, aber die halten sich meist auch nur kurz an der Spitze. Wenn sie es denn überhaupt bis dorthin schaffen. Moroder ging die Sache systematisch an. Und war immer ganz oben. Ein manischer Tüftler. Den Nerv von Millionen unterschiedlichsten musikalischen Geschmäckern zu treffen muss man sich in diesem Fall als sehr, sehr harte Arbeit vorstellen.
Im Jahr 2015 sind nun seine alten Stilmittel präsenter denn je. Sie sind im Grunde das verbindende Merkmal in der Popmusik. Zum Beispiel das von Moroder im Pop installierte Gerüst einer elektronischen Bassdrum auf jeden einzelnen Viervierteltaktschlag. Von Helene Fischer bis zum Berliner Berghain-Techno - überall regiert der sogenannte Four to the floor-Beat. Heute dominiert die gerade Techno-Bassdrum die populäre Musik, nicht mehr die Rhythmik von Rock, R'n'B oder Hip-Hop. Und zwar nicht nur in den Charts, sondern auch in den millionenfach gehörten Youtube-Kanälen und bei Streaming-Diensten wie Spotify. Amerikanische Major-Labels nehmen reihenweise europäische House-Produzenten unter Vertrag und sogar Def Jam, das berühmteste Hip-Hop-Label der Welt, hat inzwischen die Poptechno-Produzenten der Swedish House Mafia unter Vertrag. In Las Vegas gibt es jetzt Raves mit Berliner DJs, und in Supermärkten läuft statt Reinhard Mey Deep House von Robin Schulz.
Was soll man sagen? Es ist schon brachial geraten
Dass der Meister selbst genau jetzt zurückkommt, ist dem entsprechend alles andere als Zufall. Seit Daft Punk dem inzwischen 75-Jährigen vor zwei Jahren auf ihrem Grammy-gekrönten Album "Random Access Memories" auch noch den Song "Giorgio By Moroder" schenkten, war er ja ohnehin wieder da. Jetzt also auch wieder als Produzent mit einigen großen Diven des zeitgenössischen Pop: Sia, Charli XCX, Britney Spears, Kylie Minogue.
Aber was soll man sagen? Es ist schon brachial geraten. Als ich zu Hause in der Küche das Album hörte, kam irgendwann meine Mitbewohnerin und fragte entsetzt: "Was hörst du denn da für gruselige Musik?" Ich bat um präzisere Kritik, woraufhin sie nur etwas von Autoreifenwerbung murmelte. Vieles ist tatsächlich schwer erträglich. Aber es gibt auch Stellen, an denen die Effektlawine eine Pause macht. Es gibt sogar Passagen, die Soul haben. Immer, wenn es lichter wird, groovt es plötzlich. Die Musik stampft nicht mehr, sie rollt. "Right Here, Right Now" etwa ist so eine Nummer. Sie hat fast etwas Hymnisch-Pastorales. Auch "Wildstar" fällt aus dem Rahmen. Mehr Disco, mehr Funk, weniger Aggression - man denkt hier sofort an Moroder-Klassiker wie "I Feel Love".
Der Hit ist eindeutig "Déjà Vu". Doch der Song hat für empfindlichere Menschen ein Problem: Wenn der Refrain hereinplatzt, muss man seine Anlage leiser machen. Fast alle Songs des Albums haben diese irrsinnig penetranten Momente. Aber genau deswegen werden sie natürlich das ganze Jahr in den Hitradios laufen.
Der bessere Song ist "Tempted". Hier reist Onkel Giorgio in den Soulpop. Der Witz ist: Das Stück ist so vielschichtig orchestriert, dass man es auch mit einer Big Band als Swing-Version spielen könnte. Immer dann, wenn eine Komposition so gelungen ist, dass man sie auch in ganz anderen Stilen interpretieren kann, fängt es ja an, interessant zu werden.
"Déjà Vu" ist nichts weniger als eine Lehrstunde in Sachen Pop-Produktion
Noch besser ist "Right Here, Right Now". Es könnte lohnend sein, den Song von einer Bebop-Band interpretieren zu lassen. Songs wie "I Do This For You" oder "Back And Forth" sind dagegen ödester Technorock für Großraumdiscos. Über eine schnelle synthetische Basslinie, die auch die Grundlage vieler Donna-Summer-Hits war, baut sich bei "Right Here, Right Now" ein treibender Groove auf. Klar, dass auch hier der Gesang das Stück wieder in die Gute-Laune-Ecke manövriert. Spätestens, wenn die prägnante Vocoderstimme einsetzt, die in den frühen Achtzigerjahren so modern war, wird das Stück aber noch den Letzten zum Tanzen animieren. Die erbarmungslose Euphorie, die fast jedes Stück ausstrahlt, wird durch immer wiederkehrende Streicher ausgelöst. Clever arrangiert ist das. Und äußerst effektiv.
Aber das war ja immer schon die Spezialität der Münchner Disco-Produzenten. Die barocke Verzierung des geraden Discobeats mit kunstvoll phrasierten Geigenläufen. Moroders Münchner Kollege Michael Kunze und sein Projekt Silver Convention landeten mit so einem Song in den USA einst einen Nummer-eins-Hit: "Fly, Robin, Fly". Auch Supermax oder Boney M machten erfolgreich in München (und Wien) diese Art von Disco für die Clubs der Welt. Neben den von Munich Disco inspirierten Stücken stehen die beinahe unhörbaren Kirmestechnostücke. Sie heißen "4 U With Love", "Diamonds", " I Do This For You" oder "74 Is The New 24". Furchterregende Variationen von Bubblegum-Pop. Mit den typisch affektiert-tragischen Gesängen. Dazu billige Melodien, ein dumpfer Technobeat und diese verkratzten Bassläufe, die Amerika so liebt. An den ödesten Stellen des Albums herrscht hochenergetischer Ohrwurmterror: Lala-Gesänge, explosive Breakdowns mit Trommelwirbeln. Musik für Leute, die keine Musik mögen.
Die Mitbewohnerin kommt wieder in die Küche. Es läuft "Set Fire To Me". Sie setzt sich zu mir und summt mit. "Das ist Adele", sagt sie und zündet sich eine Zigarette an: "Wer hat denn das geklaut?" Ich: "Giorgio auf seinem neuen Album." Und sie schließlich: "Der arme alte Mann. Fällt ihm nichts mehr ein?"
Picasso hat ja auch seine Nasen bei den Griechen gestohlen
Moment! Ich schalte um auf Youtube: Sie hat recht. Adeles "Set Fire To The Rain" klingt in der Tat verflixt ähnlich. Aber das war bei Moroder ja immer schon das Konzept. Das Wiederkäuen erfolgreicher fremder Ideen. Streng genommen erinnern viele der Harmoniefolgen an bekannte Hits. Als über 30-Jähriger glaubt man, die Hälfte der Melodien schon irgendwo einmal gehört zu haben. So wurden allerdings immer schon Hits gemacht. Händel übernahm eine komplette Arie von Bononcinis "Polifemo". Richard Strauss verwendete in "Aus Italien" die Melodie eines italienischen Komponisten (der ihn daraufhin verklagte). Und Picasso hat seine Nasen bei den Griechen gestohlen. Aber heißt die Platte nicht auch "Déjà Vu"?
Mit anderen Worten: Das Album ist eine Lehrstunde in Sachen Pop-Produktion. Und ganz objektiv betrachtet, ist es perfekt. Moroder weiß, wie es geht. Und für alles, was er nicht selbst kann, holt er sich die besten Leute. Früher den passenden "funky Drummer", Arrangeur oder Co-Komponisten. Heute die Sound-Ingenieure und Beat-Bastler, die den aktuellen Standard kennen. Dazu, fürs größtmögliche Pathos, die Profitexter mit den höchsten Gagen, die sogenannten Top Liner. Und die berühmtesten Sänger. Perfekt.
Nur vielleicht nicht fantastisch. Fantastisch wäre das Album, wenn man es auch als Musikliebhaber lieben könnte. Dafür müsste man bloß die Hälfte der Songs löschen und bei den verbleibenden den gesamten Gesang, die Lead-Synthie-Stimmen und die Kratzbässe rausdrehen. Das Brillante und das Unmögliche liegen in der Popmusik sehr nahe beieinander.
Der Autor ist Produzent, Musiker und DJ und betreibt in München das Avantgarde-Pop-Label Gomma Records, auf dem zum 15. Geburtstag soeben die Compilation "Pop Futuro" erschienen ist.