Pop:Tempel des Ruhms und seiner Vergänglichkeit

Pop: Fast drei Jahre haben sie an ihrer Hotel-Suite gearbeitet: Chilly Gonzales (links) und Jarvis Cocker.

Fast drei Jahre haben sie an ihrer Hotel-Suite gearbeitet: Chilly Gonzales (links) und Jarvis Cocker.

(Foto: Alexandre Isard)

"Room 29" heißt das neue Album von Jarvis Cocker und Chilly Gonzales. Dem berühmten Hotel Chateau Marmont haben sie einen ganzen Liederzyklus gewidmet.

Albumkritik von Alex Rühle

Das Hotel Chateau Marmont am Sunset Boulevard hat seit seiner Eröffnung 1929 so viele Berühmtheiten beherbergt, dass es selbst längst zur Legende wurde. Liz Taylor hat sich hier mit Richard Burton gefetzt, Led Zeppelin sind mit ihren Harley Davidsons durch die Lobby geknattert, Britney Spears erhielt Hausverbot, nachdem sie sich im Hotel-Restaurant Essen ins Gesicht geschmiert hatte. James Dean sprang durch ein Fenster, Jim Morrison fiel vom Dach, Helmut Newton fuhr gegen eine Mauer und starb. Kurzum, das Marmont ist selbst seit Jahrzehnten ein Tempel des Ruhms und seiner Vergänglichkeit.

Als der britische Sänger Jarvis Cocker 2012 mit seiner Band Pulp auf Tournee war, wurde er im Zimmer 29 einquartiert, in dem seit vielen Jahrzehnten ein Stutzflügel steht. Sein neues Album und der erste Song heißen nach diesem "Room 29", womit von Anfang an klar ist: Hier spielt die Musik. Statt die Superstarmythen des Grand Hotels zu wiederholen, bleibt Cocker die ganze CD über in diesem einen Raum und sucht nach den Spuren, die all die Gäste dort hinterlassen haben: "I read an actress used to party in this place / and do drugs off the piano / If I'll lick, will it still taste?" (Ich habe gelesen, dass eine Schauspielerin hier ihre Partys feierte und Drogen vom Klavier schnupfte. Schmeckt man das noch, wenn ich daran lecke?)

Ein ganzes Lebensunglück in einem schiefgereimten Zweizeiler

Room 29, eines von 63 Zimmern. Seine Geschichten. Seine Bewohner. Jean Harlow, die Sexgöttin der dreißiger Jahre, verbrachte hier ihre Hochzeitsnacht mit dem Produzenten Paul Bern. Bern war außer sich vor Freude, er hatte das Idol seiner Zeit geangelt. Zwei Monate später brachte er sich um. 80 Jahre später wird daraus bei Cocker ein herzzerreißender Text über die Unmöglichkeit, mit einer Projektion zu leben. Der Tod kommt im Song selbst nicht vor, nur die Verzweiflung darüber, den Anderen, die Andere nicht zu fassen zu kriegen, weil sie natürlich von vornherein nie die war, die er sich imaginiert hatte.

Oder Mark Twains Tochter Clara, die nach dem Tod ihres Mannes, des Pianisten Ossip Gabrilowitsch, lange in Raum 29 lebte. Der Flügel, der dort steht, stammt wohl von ihm. Seine Witwe spielte tagaus tagein hinter verschlossenen Türen die Schelllackplatten ihres verstorbenen Mannes ab. Ihre Tochter starb später an Alkohol und Tabletten. Cocker reimt in "Clara" melodic auf alcoholic, ein ganzes Lebensunglück in einem schiefgereimten Zweizeiler, Lakonie, die fast schon wieder komisch ist.

Passend zur Musik flüstert Cocker die meisten Songs

Es geht also um konkrete Biografien - und zugleich darum, wie das ist, wenn man im falschen Leben eingecheckt hat und nicht mehr rausfindet. Cocker erzählt Geschichten aus diesem Hotel und macht sich Gedanken über Hoteleinsamkeit an sich. Dass Hotels einem kurzfristig Aura und Reichtum leihen. Dass man gleichzeitig umsorgt und einsam ist. Wie wenig Spuren man doch hinterlässt.

So weit, so Text. Aber da sitzt ja noch dieser Typ am Klavier. Mit Pantoffeln, Raspelbart und einem Schlafzimmerblick, der wirkt, als habe der Mann selbst ganze Monate hinter schweren Vorhängen im Marmont verbracht. Chilly Gonzales.

Gonzales und Cocker sind seit langem befreundet. Cocker lebt heute in Gonzales' Pariser Wohnung. Viele Jahre schon wollten sie gemeinsam ein Album aufnehmen und Cocker sagt, er habe, als er den Flügel in "Room 29" sah, sofort an Gonzales gedacht. Der komponierte, passend zum Albumtitel, Kammermusik im wörtlichen Sinne, 16 intime Stücke, einige für Streichquartett, die meisten für Solopiano, das er selbst so leise spielt, als wolle er die Zimmernachbarn nicht stören. Passend dazu flüstert Cocker die Songs eher, als dass er sie singt. Als würde er sie einem im abgedunkelten Raum auf dem Kopfkissen neben einem erzählen.

Melodien wie Wendeltreppen

Die Musik war übrigens zuerst da: Gonzales schickte Cocker Piano-Tracks, auf die dieser dann so gekonnt dichtete, dass Musik und Sprechgesang jetzt ineinanderpassen wie die Hand in den Maßhandschuh des Concierges, der einem den Champagner einschenkt. Die Songs kommen so melodisch und eingängig daher, das fließt alles so süffigsanft in den Gehörgang, dass man zunächst gar nicht merkt, wie ausgefinkelt das Album ist: Themen, die "Room 29" eröffnen, tauchen gegen Ende spiegelsymmetrisch wieder auf. Und als das Album einmal doch Room 29 verlässt und in die oberen Stockwerke umzieht, wo Howard Hughes einsam starb, baut Gonzales Melodien wie Wendeltreppen.

Mit ihren übermäßigen Akkorden und der melancholischen Harmonieseligkeit erinnern die Songs an das Hollywood der dreißiger Jahre, als beim Happy End noch jedes mal der Himmel voller Geigen hing. Zum anderen zitiert Gonzales Spätromantik von Debussy bis Satie, wehende Vorhänge, süße Klangtrauben. Die beiden scheuen sich auch nicht, das Ganze unironisch als "Liederzyklus" zu bezeichnen, womit sie noch tiefer ins 19. Jahrhundert zurückgreifen, zu Schubert und Mendelssohn - und gleichzeitig klarmachen: Wenn der Architekt des Marmont schamlos ein Loire-Schloss kopieren durfte, dann dürfen wir uns auch an den schönsten Bausätzen der Klassik bedienen.

Jarvis Cocker & Chilly Gonzales: "Room 29", Deutsche Grammophon, 16,99 Euro. Konzerte: 23.-25.03. London - Barbican; 28.-30.03. Berlin - Volksbühne

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