Süddeutsche Zeitung

Pop:Retrogratwanderung

Die Popnerd-Band "Mercury Rev" versucht auf ihrem neuen Album, einen alten Flop zum Klassiker zu stilisieren.

Von Klaus Walter

Es ist einer von diesen dunstig-schläfrigen Tagen im Delta. Am 3. Juni 1967 springt Billy Joe MacAllister von der Tallahatchie Brücke in den Mississippi River in den Tod. Das erzählt Bobbie Gentry in einem der größten Hits des Jahres 1967: "Ode To Billie Joe". Sie erzählt es mit einer heiseren Blue-Eyed-Soul-Stimme, die zu ihrem Markenzeichen werden sollte, untrennbar verbunden mit den Fotos einer Frau mit Faible für körpernah geschnittene Hosenanzüge, gerne einteilig, gerne aus Wildleder nebst Fransen. Mit ihren blauschwarz nach hinten getürmten Haaren sieht sie wie eine Kreuzung aus der jungen Elizabeth Taylor und der jungen Cher. Mit 23 singt sie, als hätte sie schon viel gesehen vom Leben. Bobbie Gentry singt dabei ihre eigenen Songs nicht nur, sie produziert sie auch selbst, wird aber nie als Produzentin genannt. Nicht üblich bei Frauen damals.

"Das Geheimnisvolle an ,Ode To Billie Joe' hat sich in meinem Hinterkopf festgesetzt wie ein verblichenes Polaroid-Foto", sagt ein halbes Jahrhundert nach dem Suizid-Hit Jonathan Donahue, Gründer und Sänger der New Yorker Band Mercury Rev. Bis heute rankt sich ein Geheimnis um Billie Joe MacAllister. Kurz vor seinem Todessprung sei er mit einer jungen Frau auf der Brücke gesehen worden, sie hätten einen Gegenstand in den Fluss geworfen. Einen Gegenstand? Ein Strauß Blumen? Ein Verlobungsring? Ein Einberufungsbefehl? LSD-Trips? Oder war es ein abgetriebener Fötus? Keine Frage wird Bobbie Gentry häufiger gestellt. Sie hat sie nie beantwortet. Der Song bleibt rätselhaft, auch für den kleinen Jonathan. "Neben Hits wie ,Yummy Yummy, Yummy I got love in my tummy' wirkt ,Ode To Billie Joe' geradezu gespenstisch", sagt Donahue. Als er den Song zum ersten Mal gehört habe, sei er nicht alt genug gewesen, um wirklich zu verstehen, worum es ging, aber alt genug, um zu wissen, dass es eine große Bedeutung haben muss, "ein Geheimnis".

Selbstverständlich unterscheidet das Popgedächtnis bei einem Southern Gothic Melodram dieser Güte nicht zwischen echt oder falsch. In Erinnerung bleibt, was Tragik, Enigma und Fallhöhe zu bieten hat (und die Selbstmörderbrücken im Mississippi Delta haben diesbezüglich einiges zu bieten). Rätselhaft blieb am Ende aber auch Bobbie Gentry.

Nach ihrem Riesenhit brachte sie noch ein paar Alben heraus, das letzte aber fast vor einem halben Jahrhundert, 1971. Inzwischen geht sie auf die Achtzig zu, und alle paar Jahre fragt irgendwer: Wo ist eigentlich Bobbie Gentry? Eine Antwort gibt mit ihrem neuen Album jetzt Mercury Rev, eine dieser überinformierten, überversierten Bands aus New York mit Zweiwohnsitz in den Catskill Mountains, denen man zutraut, jederzeit alles an kostbarer Musik, die jemals zwischen den Sümpfen von Louisiana, dem Mississippi Delta und den Catskills entstanden ist, auswendig und fehlerfrei wiederaufführen zu können. Mercury Rev haben "The Delta Sweete" gecovert, das zweite Album von Bobbie Gentry, das 1968 in den Billboard Charts auf Platz 132 hängenblieb - nach dem Welthit "Billie Joe" ein kommerzielles Desaster.

Auf "The Delta Sweete Revisited" unternehmen Mercury Rev also den Versuch, Pop-Geschichte umzuschreiben und einen Flop zum verkannten Klassiker zu stilisieren. Dabei können sie auf die Unterstützung vieler Musikjournalisten hoffen. Auf den Reflex meist männlicher Musik-Autoren, die plötzlich schon immer gewusst haben, dass "The Delta Sweete" ein verdammtes Meisterwerk war. So wie dereinst beim ersten Konzert der Sex Pistols alle dabei waren und sofort wussten, dass eine Revolution passiert. Wären alle, die das hinterher von sich behauptet haben, dabeigewesen, hätten die Sex Pistols ihr erstes Konzert nicht in der Saint Martin's School Of Art vor zwanzig Zuschauern gespielt.

Andererseits wartet "The Delta Sweete Revisited" zweifellos mit einer interessanten Versuchsanordnung auf: Vier Männer aus dem urbanen Norden rehabilitieren die legendenumrankte Kurzzeit-Königin des Country Soul aus dem ländlichen Süden, die viel zu früh verschwand. "Für uns, die wir im Nordwesten aufgewachsen sind, gibt es diese Faszination mit dem Süden, dem Southern Gothic, dieses Rätselhafte, das fühlt sich an wie ein anderes Land", sagt Gründungsmitglied Sean Mackowiak. Also hat die Band in ihrem Studio in Brooklyn ihre Vision von "The Delta Sweete", oder besser: ihre Soundfantasie vom wildromantischen Süden. Der Haken war nur, dass Sänger Jonathan Donahue bald merkte, dass ein Mann diese Songs nicht singen kann, weshalb das Fach wechselte und zum Kurator wurde. Für jeden Song wurde eine andere Sängerin engagiert.

Den Anfang macht mit Norah Jones ein Superstar, es folgt ein Who-is-Who aus dem weiten Feld zwischen Alternative Country und Arty Americana von Lucinda Williams über Margo Price bis Hope Sandoval. Dazu Edelstimmen aus Europa, etwa Beth Orton und Laetitia Sadier, einst bei Stereolab. Die Französin gibt ihr Chanteusen-Bestes, um sich in den Southern Gothic einzufühlen. Der Kontrabass strahlt Wärme aus und die Streicher werden vom Winde verweht. Anders gesagt: Auf Mercury Rev ist Verlass, mal gibt's ein elegantes Pastiche, mal eine dezente Aktualisierung oder vorsichtige Variationen, aber immer ist alles völlig geschmacksicher - und ein bisschen langweilig. Vor allem im Vergleich zum Original. Gegen Bobbie Gentrys alte Aufnahmen kommen die Remakes nicht an, Manufaktum-Musik. So teilt "The Delta Sweete Revisited" das Schicksal vieler Tribute-Alben. Gut gemeint, nur leider nicht gut. Aber immerhin ein Anlass, darauf hinzuweisen, dass mit "The Girl From Chickasaw Country" gerade das Gesamtwerk von Bobbie Gentry auf acht CDs erschienen ist.

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SZ vom 18.02.2019
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