Pop:Programm der unbegrenzten Möglichkeiten

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Hier geht alles: Moderner Studioaufbau mit dem Laptop als Herz der Musik. (Foto: Ableton)

Die Berliner Software Ableton ist weltweit das Standardinstrument des Pop.

Von Jan Kedves

Was haben die R&B-Göttin Beyoncé, die Band Depeche Mode, der Zampano der Hollywood-Soundtracks, Hans Zimmer, und der genialische Björk-Produzent Alejandro Ghersi alias Arca gemeinsam? Musikalisch herzlich wenig. Aber von allen weiß man, dass sie ihre Musik mit dem gleichen Instrument aus Berlin produzieren. Bei Instrumenten denkt man an Geige oder Flöte, hier geht es um Software. Auf Millionen von Laptops weltweit ist Ableton Live installiert, die Nutzer produzieren damit Pop, Rock, Dubstep, Neo-Klassik, alles Mögliche, sie führen die Musik damit auch live auf.

Ableton Live ist im Pop-Bereich das, was Photoshop in der Fotografie oder der Avid-Schnittplatz im Film ist: die Software, die zum Industriestandard geworden ist. Im Feuilleton würde man darüber sonst womöglich nicht schreiben, allerdings hat der Hersteller Ableton vor Kurzem zum dritten Mal das frühere DDR-Funkhaus an der Spree in Berlin-Oberschöneweide angemietet, um sein jährliches Musikmacher-Gipfeltreffen abzuhalten: Loop.

Drei Tage lang diskutierten hier um die zweitausend aus aller Welt angereisten Produzenten, Sound-Designer, DJs, Autoren, Programmierer und Theoretiker auch die neuen Funktionen von Live 10, der neuesten Version der Software, aber eigentlich die großen Fragen: Wie wird Musik in Zukunft klingen, und welche Rolle wird der Mensch dabei spielen? Wie kann der historisch neue Typus des Laptop-Musikers, der ganz auf sich gestellt und mit so vielen kreativen Freiheiten ausgestattet ist wie noch nie, mit seiner Freiheit auf Dauer klarkommen, ohne einen Burn-out zu bekommen? Auch: Perpetuieren die "Presets", die Voreinstellungen einer deutschen Musik-Software, automatisch ein westliches Verständnis von Harmonik und Rhythmik, und wenn ja: Wie ließe sich das vermeiden?

Es waren drei intensive Tage, und wer in den Gängen des Funkhauses von Workshop zu Vortrag zu Gesprächsrunde lief, sich hier über die neuesten Entwicklungen in der Klangsynthese informierte und dort darüber, wie man als Laptop-Musiker mit Gesang und Stimme arbeiten kann, der konnte zwischendurch auch den Kopf des CEO ausmachen: Gerhard Behles, 48, ein hochgewachsener, sehr freundlicher, etwas vergeistigter Mann, den man vielleicht als Nerd bezeichnen würde, wäre er nicht so elegant gekleidet.

Behles hat Ableton 1999 mit zwei Kollegen gegründet, Robert Henke und Bernd Roggendorf. Man kannte sich vom Informatikstudium an der Technischen Universität, Roggendorf war Programmierer. Die gemeinsam entwickelte Software erlaubte es Henke und Behles, die Techno-Tracks, die sie damals gemeinsam produzierten, nachts im Club nicht nur abzuspielen, sondern live zu bearbeiten und umzuarrangieren. Improvisieren am Screen, sozusagen, mittels eines transportablen, komplett ins Laptop hineingeschrumpften Musikstudios. "Damals gab es ja schon Laptops, und es war absehbar, dass das der Formfaktor wird, der die nächsten Jahrzehnte dominieren wird", erinnert sich Behles.

So sehr Ableton Live also ein Produkt der Berliner Clubszene der späten Neunzigerjahre ist, so sehr hat es weit über diese hinaus das Geschäft der Musikproduktion und Livedarbietung umgekrempelt. Dass in den vergangenen Jahren weltweit immer mehr Festivals aus dem Boden geschossen sind, wird mit der Software zugeschrieben: Ein Live-Act, der mit nichts weiter auftritt als einem Laptop, kostet weniger als eine Band, so rechnet sich dann auch das neue Festival.

Ableton beschäftigt heute weltweit 280 Mitarbeiter, der Hauptsitz ist immer noch in einem Hinterhof in der Schönhauser Allee in Mitte, und wie beim Loop-Summit im Funkhaus zu spüren war, versteht man das eigene Produkt nicht allein als Software, sondern als Kultur- und Diskurs-auftrag. Oder anders gesagt: Man möchte auch die Probleme nicht ignorieren. Jede Software legt ja bestimmte Nutzungsweisen nahe. Viervierteltakt, Tempo einstellen, ein paar Preset-Sounds auswählen, fertig ist die Sause. Zwar war es nie leichter, ein Stück Musik zu produzieren, als mit Ableton Live, aber die Möglichkeiten des Programms erschöpfen sich nicht in standardisiertem Minimal-Techno. Eher ist es so, dass viele Nutzer gar nicht dazu kommen, andere Optionen zu ergründen. "Die Technologie macht erst mal gar nichts leichter, sondern eigentlich sogar schwieriger, weil sie mehr Möglichkeiten erzeugt", sagt Gerhard Behles. "Innerhalb kürzester Zeit sind wir von einer Welt der Knappheit zu einer Welt des Überflusses gelangt, was kreative Möglichkeiten angeht. Das ist viel zu kurze Zeit, um als Spezies klarzukommen."

Einer der Workshops bei Loop hieß deswegen "Breaking out of 4/4": aus dem Vierviertel-Schema ausbrechen. Es ging darum, was für interessante Rhythmen entstehen können, wenn man mal einen Takt auslässt oder hier und da einen zusätzlichen Beat einbaut. Schöne Beispiele aus prädigitalen Zeiten wurden vorgespielt: "I Am The Walrus" von den Beatles oder der von Pat Metheny butterweich in die Gitarre gegniedelte "Electric Counterpoint" von Steve Reich. Beim Versuch, die ungeraden Metren dieser Stücke mitzuklatschen, tat sich mancher Teilnehmer schwer. In Ableton Live lassen sich natürlich auch solche schrägen und noch viel komplexere Metren auswählen. Nur: Die Nutzer müssen ja erst mal eine Vorstellung von ihnen haben.

Musiker formen nie allein den Klang ihrer Instrumente, die Instrumente formen immer auch die Musiker, so wie die Instrumente wiederum von Technologie und ökonomischen Zusammenhängen geformt werden. Nichts Neues. "Es ist kein Zufall, dass das Klavier mit der industriellen Revolution so populär wurde", sagt Gerhard Behles. "Es war das perfekte Instrument, um es in einer Fabrik herzustellen, deswegen gehört es in den Frühkapitalismus."

Ableton Live für 599 Euro ist so gesehen das perfekte Instrument für den Musiker im postindustriellen Spätkapitalismus: Im Flugzeug zwischen zwei Gigs auf dem Laptop noch schnell einen neuen Track fertig machen und ihn umsonst ins Netz laden, um die Fans schon auf den nächsten Gig heiß zu machen, Dann noch den Podcast aufnehmen, den das wichtige Online-Magazin mit den Millionen Followern angefordert hat. Ein Honorar gibt es dafür nicht, dafür aber die wichtigste Währung überhaupt heute: Aufmerksamkeit.

Kein Wunder, wenn einem Produzenten, der als Live-Act pausenlos unterwegs ist, der dabei womöglich noch sein eigenes Label betreibt und sich auf der Suche nach Inspiration in Ableton Live tagelang durch tausende Preset-Sounds klickt, irgendwann mal die Puste ausgeht. "Alle Wege aus diesem Problem sind dadurch gekennzeichnet, dass man sich selbst den geeigneten Rahmen setzt - so groß oder klein der auch sein mag - und da drin bleibt. Das kann für ein Stück gelten, oder auch für ein Leben", sagt Gerhard Behles. Einerseits alle Möglichkeiten erkunden, andererseits Grenzen ziehen. Die vollkommene Überforderung? Bei Loop hatte man auch eine Diskussion zum Thema psychische Gesundheit angesetzt. Bei ihr sprachen unter anderen die britische Electronica-Produzentin Ema Jolly alias Emika und der Kalifornier Jason Chung, der unter dem Namen Nosaj Thing für Rap-Stars wie Kendrick Lamar oder Kid Cudi produziert, offen über ihre Burn-out-Erfahrungen und Phasen kreativer Erschöpfung und Frustration.

Es gibt viel zu viel Musik - sollen Computer in Zukunft nicht auch die relevanten Stücke aussieben?

Öfter mal das Laptop zuklappen und offline gehen, lautete naheliegenderweise ein Fazit des Panels. Die Folge: Man würde dann halt den einen oder anderen Track weniger produzieren. Wäre das schlimm? Vielleicht nicht, denn - auch das schien bei Loop Konsens zu sein - es gibt im Grunde ohnehin viel zu viel Musik. Nicht zuletzt, weil es durch Ableton Live so leicht geworden ist, sie zu produzieren.

Der Vortrag des Briten Nick Collins, der Komposition und computerbasierte Musikanalyse an der Durham University lehrt, passte dazu perfekt. Seine These: Künstliche Intelligenz kann helfen, der Musikflut von heute Herr zu werden, oder: Wenn mit Computern soviel Musik produziert wird, dass es kaum noch genug menschliche Ohren gibt, um sie anzuhören, wäre es nur logisch, wenn Computer die Musik hören würden.

Das war zwar mit einem Augenzwinkern vorgetragen, aber sehr ernst gemeint: Computer könnten Musik schon mal vorsortieren, also algorithmisch jene Stücke herausfiltern, die harmonisch, rhythmisch oder melodisch aus der Norm fallen; Stücke, die für das menschliche Ohr womöglich interessanter klingen als die zigtausend anderen Tracks, die nur noch mehr des Immerselben bieten. Zukunftsmusik? Nach drei Tagen Loop muss man sagen: Sicher nicht.

© SZ vom 29.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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