Süddeutsche Zeitung

Pop-Kolumne über Låpsley:Frisch aus dem Trendlabor

Die 19-jährige Britin Låpsley hat mit ihrem Debüt so etwas wie die Weltformel des zeitgenössischen Pop entdeckt. Das müsste eigentlich nerven. Oder?

Off the Record: die Pop-Kolumne von Julian Dörr

"We learned more from a three minute record than we ever learned in school", sang Bruce Springsteen 1984. Und das stimmt auch heute noch. Pop kann uns die Welt erklären - in unserer neuen wöchentlichen Musik-Kolumne.

Pop ist ja ein ziemlich paradoxes Ding. Besessen von der eigenen Vergangenheit - und gleichzeitig total verrückt nach dem neuesten heißen Hype. Diesen Widerspruch, der ja eigentlich gar keiner ist, nimmt Låpsley in sich auf und formt daraus Fließband-Pop, der wie frisch aus dem Trendlabor klingt. Mal donnert die Stimme der jungen Britin mit der souligen Seelenstreichler-Gewalt von Adele, mal zerfrickelt der Sound im Modern-Dance-R'n'B von FKA Twigs.

Es ist fast so, als hätte Holly Lapsley Fletcher aus Liverpool, die sich als Künstlerin mit einem identitätsstiftenden Kreis über dem ersten Vokal schreibt, eine Weltformel für hippen, urbanen und zeitgeistigen Pop entdeckt. Ihr Debüt "Long Way Home" (XL Recordings) müsste in seiner Künstlichkeit und Berechenbarkeit eigentlich nerven. Aber erstaunlicherweise funktioniert es ziemlich gut.

Da ist "Hurt Me", dieses Stück blanker teenage angst, eine tieftönende Piano-Ballade mit Geisterstimmen-Synthie. Ein Song, so kalt und trist wie eine nordenglische Plattenbauwand. Dem gegenüber steht "Love Is Blind" - ein Skrillex-Song ohne Skrillex. So klingt zumindest das Introgedudel. Doch statt den Bass in den Keller droppen zu lassen, taucht Låpsley den Song zu Phil-Collins-Schlagzeug in strahlendes Pop-Pathos.

Adele rutscht langsam in die Zielgruppe 40 plus ab

Man kann das als spätpubertäre Gefühlszwitter abtun - oder "Long Way Home" als Zeichen der Zeit sehen. Mit der 19-jährigen Låpsley betritt eine Generation die Bühne, die ihr Verständnis von Pop an dem verhallt-verschüchterten Neo-R'n'B von James Blake und The XX geschult hat - und vor allem am Internet. Dort findet Musikgeschichte in ewiger Gegenwärtigkeit statt. Låpsley hat das alles aufgesogen, den Pop, den Soul, den Plattenbau und den Waberbass - die ganze DNA britischer Musik.

"Long Way Home" nimmt einen an der Hand und führt durch eine dieser klammen, britischen Nebel-Nächte, rein in den nächsten Industriebunker, wo einst schweißverklebte Männer malochten, dann ein paar Jahre lang der Rave toben durfte und sich heute supergut gekleidete Teenager zum Beat wiegen - den Blick fest auf die eigenen Schuhe fixiert.

Unter Vertrag steht Låpsley beim britischen Indie-Label XL Recordings, dort haben sie vor Jahren die junge Adele entdeckt. Und weil die heute voll Mutterfreude um ihre Jugend trauert und in die Zielgruppe 40 plus abzurutschen droht, braucht man Nachschub. Und ja, Låpsley und Adele haben mehr gemein als das gefühlig-warme Timbre ihrer Stimmen. Beide sind auf eine sehr angenehme Weise von überholter Kommunikationstechnik fasziniert.

Das inhaltsleere Musikkritiker-Konzept von Authentizität

In Adeles Video zu "Hello" sind es ein Klapp-Handy und Schnur-Apparate, bei Låpsley ist es der lange vergessene Beruf des Telefonisten. Den besingt sie im angefunkten Retro-Soul von "Operator". Ein Song, der mit seinen Chic-Disco-Streichern und dem Geräusch eines startenden Flugzeugs völlig aus Zeit und Lebenswelt gefallen scheint. Lieber Telefonist, verbinden Sie mich zum Ferngespräch. Bitte? Die Frau ist 19.

Und es funktioniert trotzdem. Weil Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit auch im Pop-Metier die härtesten Währungen sind und weit über das inhaltsleere Musikkritiker-Konzept von Authentizität hinausgehen. Man hört hier eine selbstbestimmte Frau, die ihre Songs selbst schreibt und produziert. Kein Mann an den Reglern, kein Mann im Hintergrund, nicht mal ein männlicher Gesangspartner - auf dessen Stimmlage pitcht sich Låpsley im Duett "Station" einfach selbst herunter.

Eigentlich müsste Låpsleys Musik belangloser und vergessenswerter Format-Pop sein. Doch die junge Künstlerin presst so viel Leben in ihre Töne, dass das Ergebnis berührt. Weshalb es nun auch völlig okay ist, dass eine 19-Jährige von Telefonisten singt. Oder eine 27-jährige Mutter der verlorenen Leichtigkeit ihrer Jugend nachtrauert. Der Pop ist groß genug für Låpsley und Adele.

Låpsley: "Long Way Home" (XL Recordings)

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