Süddeutsche Zeitung

Fünf Favoriten der Woche:Die Schönheit der Stapel

Eine CD mit Wagner, Mahler und Berg, ein Sommercomic, Indie-Pop von Zwanie Jonson, ein Dank an die Partymüllwegräumer und die Forderung, das japanische Wort Tsundoku endlich einzudeutschen.

Von Autorinnen und Autoren der SZ

Wagner, Mahler, Berg

Was an dieser Aufnahme sofort ins Auge sticht: die Zusammenstellung, das Aneinanderrücken der Lieder von Alban Berg, Richard Wagner und Gustav Mahler. Da erwartet man unüberbrückbare Differenzen, ästhetische Kollisionen, ideologische Totalschäden. Aber weit gefehlt. Man begreift erst beim Zusammenhören der scheinbar so disparaten historischen Kompositionslinien ihren unerschütterlichen Zusammenhalt, ihren festen traditionellen Grund. Deshalb wäre es auch eher aufdringlich, in der musikalischen Umsetzung das Verbindende in den Vordergrund zu stellen. Stattdessen agiert die Sopranistin Anja Harteros instinktsicher nach textinhaltlichen Leitlinien, sucht nach passenden Klangfarben und einer weich dahinfließenden Erzählstruktur, während die Münchner Philharmoniker unter Leitung ihres Chefdirigenten Valery Gergiev einen breiten harmonischen Teppich ausrollen und passende Räume schaffen, in denen sich Orchesterklang und Singstimme gleichermaßen frei und doch immer wieder zielgerichtet aufeinander zubewegen und gegenseitig umklammern. So entstehen nicht nur neue Werkmöglichkeiten und frische Einblicke in Bekanntes, sondern quasi eine Immanenz des Gestalteten, die den Hörer neugierig werden lässt und in einen wunderbar fremden Kosmos hineinzieht, in die Welt des Fin de Siècle, die ihren grandiosen Untergang ja schon im Namen trägt. Die Lust an der wehmütigen Nachschau, das Hinterherträumen nie mehr erlebbarer sowie nie gekannter Gemütszustände haben Berg, Wagner und Mahler sich jeweils auf ihre Weise ausgemalt, mit kleineren und größeren musikalischen Extravaganzen und Extremen, aber doch alle so, dass man sie in einer gemeinsamen Klangsprache versteht. Als ob die Zeit der Entstehung nicht nur das Gefühl vorgab, sondern auch die richtige klangliche Rede. Und dies, obwohl 1908, als Berg seine "Sieben frühen Lieder" abschloss, kaum noch etwas so war wie 1858, zur Zeit von Wagners Wesendonck-Liedern. Mahlers Rückert-Lieder von 1902 erscheinen hierbei keineswegs eingeklemmt zwischen Wagners kraftvoll-zarter Poesie und Bergs orchestralen Aufbruchsdrang, sie versuchen vielmehr, sich darüber zu erheben und die Vermittlung, wäre sie denn nötig, zu verweigern. Helmut Mauró

Zwanie Jonson

Zwanie Jonson (der Pressetext verlangt, dass man es schwedisch ausspricht, womit er der patronymisch gebildeten Familiennamen wegen wohl der Son des Jon ist) heißt eigentlich Christoph Kähler und trommelte im Hauptberuf unter anderem für Bands wie Fettes Brot und Die Fantastischen Vier. Solo macht der Hamburger herrlich US-westküstenschwülen Indie-Pop mit leichter Folk-Funk-Schlagseite. Auch auf "We Like It" gibt es wieder ganz fein hingepatschte Drums, knarzige Gitarren, viel analoge Rhodes-Wärme, ein bisschen Synthie-Firlefanz, genau richtig verschwiemelte Chöre. Der selbst ja vermutlich ständig ganz knapp vor höheren Einsichten stehende DJ Koze sagte einst: "Die Süße und Freundlichkeit, die sich durch alle Songs ziehen, lässt einen glauben, Zwanie stehe kurz vor seiner Erleuchtung." Und genau so ist es ja. Jakob Biazza

Senso

Ein Sommerbuch. Die Hitze dringt aus jeder Seite. Sie umweht als nächtliche Schwüle die nackten Körper beim Liebesspiel, mit dem die Erzählung beginnt, dann grillt sie einen Mann auf dem Weg zu seinem Hotel. Eine "Höllen-Hitze", wie die Bild die aktuellen Temperaturen in Südosteuropa nennt, aber ist sie nicht, eher eine alles durchdringende Wärme, die keine Bedrohung bedeutet, sondern Geborgenheit und Sinnlichkeit.

Germano ist der Held dieser Geschichte, ein verpeilter Unglückswurm, schmächtig und mit Brille, der nach einer quälend langen Zugreise (die Hitze, ein Streik) zu spät bei seinem Hotel ankommt, weshalb seine Reservierung verfallen ist. Und weil in diesem Landhotel gerade eine Hochzeit gefeiert wird, sind alle Zimmer vergeben, Germano bleibt nichts anderes übrig, als die Nacht auf dem Sofa in der Lobby zu verbringen. Dabei verliert er zuerst seinen Koffer, dann die Schuhe und schließlich die Hose - das alles ist komisch bis an die Grenze zum (grausamen) Slapstick. Aber Germano lernt auch Elena kennen, die zur Hochzeit eingeladen war, aber eigentlich nicht kommen wollte. Der weitläufige Park des Luxushotels wird zum Schauplatz ihrer Begegnung.

Der französische Zeichner Alfred (bürgerlich: Lionel Papagalli) ist ein Meister der Stimmungen, die Bilder in seinem Comic flirren und glühen förmlich in mediterranem Licht. "Senso" (Reprodukt Verlag, 160 Seiten, 20 Euro) wirkt leicht und durch und durch "italienisch". Nachts im Park, wenn Germano und Elena von sich erzählen, wenn sie Boot fahren auf einem See und sich lieben, scheint die Zeit stillzustehen. Sterne funkeln am nachtblauen Himmel, Bäume werden zu schwarzen Schatten und zur theatralisch-idyllischen Kulisse. Die Luft ist immer noch warm. Eine Sommernachtstragikomödie - Melancholie begleitet die Liebesgeschichte. Germano ist kein junger Mann mehr, er hat manches verpatzt und einiges verloren in seinem Leben, auch Elena hat ihre Geschichten. Dass - und wie - die beiden zusammenfinden, hat darum etwas Märchenhaftes. Ganz und gar fantastisch wirkt schließlich der Auftritt eins mächtigen Stiers, der wie ein Phantom plötzlich auftaucht und als taurus ex machina Germano und die Geschichte vor einem schlimmen Ende bewahrt. Was für ein Glück! Martina Knoben

Das Prinzip Tsundoku

Bücherregale und wie sie einzuräumen sind, das hat sich zu einer kompetitiven Haushalts- und Selbstverwirklichungsdisziplin entwickelt. Dabei ist es doch der wie eine Pflanze natürlich gewachsene, unscheinbare Stapel neben dem Regal, auf dem die Bücher erst ganz zu sich finden. Dort können sie nur für sich stehen, ohne die einengenden und einordnenden Nachbarn, gleichzeitig aber "Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" (Thomas Mann) ungezwungen auf "Die zwei Türme" (J.R.R. Tolkien) treffen, um im besten Fall überraschende neue Verbindungen herzustellen. Im Japanischen gibt es für das Phänomen der ungelesenen, sich im Haus zu solchen Stapeln zusammenfindenden Bücher sogar einen eigenen Begriff: Tsundoku, eine Wortschöpfung aus den Worten für "lesen" und "stapeln", die unbedingt ins Deutsche zu übernehmen ist. Denn das Regal ist der Friedhof der Bücher. Hoch lebe Tsundoku! Nicolas Freund

Sühnflächen

Im zweiten Sommer der Seuche sollte man keine Wortgirlanden mehr basteln für "Helden des Alltags", Gründe, sich aufgrund von Ungerechtigkeiten zu schämen, gibt es jedoch weiterhin viele. Menschen wollen "endlich wieder" feiern, aber lieber nicht in engsten Räumen. Der Kompromiss lautet nun darauf, sich bei Bumsmusik zwar komplett gehen zu lassen, das aber nicht im Partykeller, sondern irgendwo draußen. Die stinkenden Reste verarbeiten jeden Morgen Müllabfuhr und Grün-, respektive Sühnflächenamt. Im Anblick dessen lehnt sich die Sozialwissenschaft einmal mehr zurück und registriert lediglich die "Tragik der Allmende". Von solchen Erläuterungen aber ist noch keine Wiese je wieder sauber geworden. Deshalb wenigstens mal kurz und kleinlaut zwischendrin: Danke an alle Räumkräfte. Cornelius Pollmer

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