Pop in der Gegenwart:Das Missverständnis Frank Sinatra

Das Doppelleben des Frank Sinatra

Frank Sinatras Glamour war der Triumph über den Abgrund.

(Foto: obs)

Im "Great American Songbook", dem Kanon aus Schnulzen, Gassenhauern und Musicalhits aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, suchen Stars die Flucht aus der Kurzlebigkeit des Pop. Wirklich gemeistert hat das Material aber nur ein Ex-Teeniestar.

Von Andrian Kreye

Als Paul McCartney für die Aufnahmen zu seinem Album "Kisses on the Bottom" im zylinderförmigen Hochhaus der Capitol Studios ankam, das wie ein Denkmal des California Cool über Hollywood ragt, wurde ihm das Mikrofon Nummer 4 zugeteilt. Nat King Cole hatte damit früher aufgenommen. In dem selben Studio, in dem Frank Sinatra das Mikro Nummer 9 benutzte. Und so erzählte McCartney dann voller Ehrfurcht davon, wie er mit dem historischen Mikrofon historische Musik eingespielt habe.

Das Album wurde eine Sammlung von Songs aus seiner Kindheit. Die meisten stammen aus dem "Great American Songbook", jenem sagenumwobenen Kanon aus Schnulzen, Gassenhauern und Musicalhits aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der in der zweiten Hälfte die Basis für die Geschichte des Jazz und den Pop bildete, weil Nat King Cole, Frank Sinatra, Charlie Parker und Miles Davis den Schlagerstoff in Meisterwerke verwandelten.

Wenn sich heute ein Star an diesen Kanon wagt, verheißt das meist nichts Gutes. In der Regel nehmen Popstars das Great American Songbook in einem Moment auf, an dem sie realisieren, dass sie ähnlich wie Primaballerinen, Supermodels und Spitzensportler einen Beruf mit begrenzter Laufzeit ergriffen haben. Dann sind sie sowieso sehr anfällig für falsche Entscheidungen. Sie lösen ihre Band auf, oder sie wiedervereinen ihre aufgelöste Band, sie finden zu irgendeinem Glauben, werden drogensüchtig, oder - wenn sie genügend Geld für ein großes Orchester haben - spielen eben Stücke von Irving Berlin, George Gershwin und Harold Arlen ein.

George Michael war zum Beispiel schon oft an so einem Punkt. Bisher war er dabei eigentlich ein Glücksfall, denn wenn man ungefähr in seinem Alter war, konnte man mit ihm ganz gut älter werden, obwohl es fast unmöglich ist, mit dem Pop zu altern.

Mit 23 löste er sein Erfolgsduo Wham! auf, sang dann erst einmal phänomenal erfolgreich über Sex und Freiheit. Mit 28 zeigte sich die erste Krise, da schrieb er Lieder über Jesus und das Beten und floppte in den Charts. Kurz darauf lieferte er mit dem Album "Older" schon ein gelungenes Alterswerk ab. Nebenher wehrte er sich sehr öffentlich gegen die Knebelverträge seiner Plattenfirma und verstieß gegen rigide amerikanische Sittengesetze.

Mit 36 suchte George Michael dann allerdings auf dem Album "Songs from the Last Century" im Great American Songbook nach Unsterblichkeit. Mit dem Umkehreffekt, dass es das erste George-Michael-Album war, das man getrost vergessen konnte. Neulich ist nun eine Art Nachfolger herausgekommen, das Live-Album "Symphonica", auf dem er vor ganz großem Orchester quer durch sein eigenes Repertoire und das Great American Song Book pflügt. Dabei verhaspelt er sich zwischen den Streicherpolstern und dem Routine-Swing endgültig in einem Pathos, aus dem es keinen Ausweg gibt.

Regentschaft des Rat Pack

Ganz zum Schluss nimmt er sich Bill Careys "You've Changed" vor, eine Ballade aus dem Jahr 1941, die exemplarisch zeigt, warum sich Pop- und Rockstars am Great American Songbook verheben. Ursprünglich war der Song ein mittelmäßiger Hit für den argentinischen Hollywoodstar Dick Haymes. Dann aber kamen Nat King Cole, Billie Holiday und Sarah Vaughan, und die entdeckten in dem Song plötzlich Abgründe. Vor allem Billie Holiday konnte aus der Enttäuschung über eine erkaltete Liebe ein Manifest der Hoffnungslosigkeit schürfen. Die aber ging 1958 sehr viel tiefer als eine romantische Melancholie. Das war der Abgrund, der sich zwischen der Euphorie der Wirtschaftswunderjahre und der Realität einer geteilten Gesellschaft aufgetan hatte.

George Michael führt das Stück nun zurück in die Mittelmäßigkeit der Songfabriken und Schlagerparaden, in der es ursprünglich entstanden ist. Vibrato und Seufzerphrasierung sind erst Übersprungshandlungen, dann im Finale verzweifelte Versuche, die emotionalen Untiefen zu umschiffen, in die er da geraten ist. Weil er in dem Song eben nicht nach den Abgründen sucht, genauso wenig wie all die anderen nach Abgründen gesucht haben, die sich am Great American Songbook versuchten - Paul McCartney eben, Rod Stewart, Willie Nelson, Robbie Williams, jetzt auch noch Leon Russell.

Es ist nicht einmal das Problem, dass hier Musiker antreten, die ihr Leben lang im Viervierteltakt mit der Eins und der Drei den harten Schub des Rock akzentuierten und die sich in der Lässigkeit der Swing-Betonung auf der Zwei und der Vier oft etwas fremd fühlen. Es ist das große Missverständnis Frank Sinatra. Denn es ist eben nicht der junge Sinatra, den sie suchen, das hagere Stimmwunder aus New Jersey. Es ist der reife Sinatra, der in den Capitol Studios Songs für die Ewigkeit aufnahm und mit Sammy Davis Jr., Dean Martin, Joey Bishop und Peter Lawford als "Rat Pack" auf den Casino-Bühnen von Las Vegas und in eigenen Fernsehsendungen gut angetrunkene Witze riss.

Triumphmarsch nach langem Kampf

Die Regentschaft des Rat Pack in Vegas war allerdings nicht die Speerspitze der Popkultur im Aufbruch, sondern die Bestätigung einer gesellschaftlichen Umwälzung, die sich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Amerika vollzogen hatte. Frank Sinatra und Dean Martin waren die Söhne italienischer Einwanderer, Sammy Davis' hatte kubanische Wurzeln, Joey Bishop stammte aus einer Familie zentraleuropäischer Juden, Peter Lawford war geborener Engländer. Das Rat Pack war die Bestätigung, dass die Welle der europäischen und lateinamerikanischen Einwanderer die Mitte der Gesellschaft erreicht hatte, die den Kontinent nicht erobert, sondern groß gemacht hatten. Das waren die Kinder der Fabrik- und Eisenbahnarbeiter, der Working Class Heros. Der Vegas Glamour war der Triumphmarsch nach einem langen Kampf, der sich gerade im Subtext von Sinatra findet.

Der verbrachte seine Kindheit noch in einem Amerika, in dem die Einwanderer aus Europa genauso verhasst waren wie die befreiten Sklaven aus dem Süden. In den Zwanzigerjahren machte der Ku-Klux-Klan nicht nur Jagd auf Schwarze, sondern auch auf Juden und Katholiken. Sinatra war das klassische Produkt des Milieus - sein Vater verdingte sich als Preisboxer, seine Mutter betrieb während der Prohibitionsjahre in Hoboken ein Speakeasy, einen illegalen Saloon. Und irgendwo zwischen den Trinkliedern der illegalen Kaschemmen, den Kirchen der katholischen Einwanderer und dem rauen Ton der Docks fand Sinatra seine Stimme. Eine Stimme für die Einsamen, denn Einsamkeit war die Kehrseite der Verheißungen, mit denen die Metropolen die Massen angelockt hatten.

"Sinatra hatte den Glamour der Großstadtnächte definiert", schrieb der New Yorker Reporter Pete Hamill in seinem 180-seitigen Essay "Why Sinatra Matters". "Die Nacht war bei ihm sowohl Zeit wie Ort. Eine dieser rastlosen Gestalten zu sein, war ein kleiner Akt des Widerstandes gegen die Konventionen, die darauf beharrten, dass man um sieben aufsteht, um acht zur Arbeit geht, um dann um zehn erschöpft ins Bett zu sinken. In seiner Musik gab Sinatra all denen eine Stimme, die glaubten, dass das eigentliche Leben erst gegen Mitternacht beginnt: Bartender, Spieler, Detektive und Gangster, Künstler und Zeitungsleute." Das aber ist ein anderer Glamour als das Glitzern von Las Vegas.

Und dann kam Robbie

Sinatras Größe war eine kosmopolitische Form des Blues, eine Mischung aus dem Rückzug der Minderheiten in die Abwehrhaltung des Cool und der abgeklärten Erkenntnis, dass eine Verheißung kein Geschenk, sondern eine Herausforderung ist. Eine Altersversicherung, mit der man sich aus der Kurzlebigkeit des Pop in die Unsterblichkeit des Glamours retten kann, war das American Songbook aber nie. Wer dort keine Abgründe entdeckt, wer sich in den Glamour drücken will, der strandet in der Leichtigkeit des Ausgangsmaterials.

Und so lieferte Paul McCartney nur den Beweis, dass es wohl doch Lennons Zorn und Zynismus waren, die ihn vor der tüdeligen Betulichkeit retteten, die "Kisses . . ." bestimmt. George Michael verleugnet einmal mehr seine eigenen Kämpfe. Rod Stewart reduziert den Kanon zum Kitsch. Nicht einmal die große Bluesstimme Leon Russell findet in den Songs zu Größe. Nur einer hat das Material in den letzten Jahren gemeistert. Ausgerechnet Ex-Teeniestar Robbie Williams hat die Größe im Great American Songbook erkannt. Weil er eine Stärke mit Sinatra teilt - er hat sich nie vor den Abgründen gedrückt, sondern gewusst, nur wer sich mit kalter Lässigkeit auf sie einlässt, darf am anderen Ende mit großer Geste triumphieren.

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