Süddeutsche Zeitung

Pop:Heult doch!

Lesezeit: 3 min

Dank der schottischen Produzentin und Popsängerin Sophie und ihrer grandiosen Single "It's Okay To Cry" regnet es jetzt doch mal wieder - wenigstens digitale Tränen.

Von Jan Kedves

Es gibt auf Youtube dieses Video, es ist mehr als fünf Millionen Mal angeklickt worden. Es zeigt nichts anderes als einen Standventilator, der drei Stunden lang hin und her schwenkt, auf der Soundspur ist das Surren des Geräts zu hören. Wer dieses Video - es heißt "Oscillating Fan (3 Hours)" - anklickt, vermeint immer dann, wenn der Ventilator die Sichtachse durchquert, zu spüren, wie ein leichter erfrischender Zug aus dem Bildschirm über die Haut streicht. Sehr angenehm. Digitaler autosuggestiver Wind!

Das Video sammelt in diesen Tagen der historischen Hitzewelle noch ein paar mehr Klicks. Genauso wie "It's Okay to Cry", die Single der schottischen Produzentin und Sängerin Sophie. Sie ist inzwischen schon knapp eine Million Mal angeklickt worden und so etwas wie die inoffizielle Hymne zur Rekorddürre. Manche halten die ja für ein Geschenk der Natur zur Freibad- und Cabrio-Saison, andere sehen längst den Klimawandel, die unumkehrbare Konsequenz aus Raubbau an der Natur und ihrer Verpestung. Letztere Menschen sind es, die gerade ganz neue Seiten an sich entdecken. Sie beginnen nämlich, zu den paar Wölkchen da oben im Himmel zu beten, dass sie doch ein wenig von ihrem kostbaren schwebenden Wasser hinabtropfen lassen mögen auf Menschen, Wälder und Felder. Aber es kommt nichts. Passend dazu scheint "It's Okay to Cry" zu fragen, ob wenigstens das funktionieren könnte: Erfrischung durch digitalen Regen.

"It's Okay To Cry" ist eine wunderbar eingängige, melancholische Pop-Ballade, gegossen in die kühlsten, flüssigsten Computer-Sounds, die man sich vorstellen kann. Die Festplattenventilatoren haben hier sehr gut gearbeitet und die Temperatur schön niedrig gehalten.

Sophie besingt im Song den Zusammenhang zwischen Tränen und Regen. Der ist im Pop nicht ganz neu. Es gibt den Blues-Standard "The Sky Is Crying" von Elmore James (1959). Im Soul-Klassiker "I Can't Stand The Rain" (1973) singt Ann Peebles, dass sie den Regen, der an ihre Fensterscheibe klopft, nicht erträgt, weil er sie an einen Mann erinnert und sie dann immer weinen muss. Diese älteren Tränen/Regen-Popsongs handeln noch von der Liebe zu einem bestimmten Menschen, oder von der Traurigkeit darüber, dass dieser Mensch jetzt abwesend ist.

Abwesend ist in der Hitzewelle 2018 ja nun aber vor allem eines: Regen. Sophie, die aus Glasgow stammt und schon Songs für Madonna und den Rap-Star Vince Staples geschrieben hat, tritt als prächtige digitale Wettergöttin auf. Sie richtet ihren Autotune-Gesang an ein unbestimmtes "you" - ob damit eine Frau, ein Mann oder überhaupt ein Individuum gemeint ist? Sagen wir: "You", das sind all die Schwitzenden, die dieser Tage mit der Frage hadern, ob die Erderwärmung nicht vielleicht schon viel weiter fortgeschritten ist, als man befürchtet hatte. Zu ihnen singt Sophie: Heult doch, ihr Menschen! Gesteht euch endlich ein, dass gar nichts mehr okay ist! Schämt euch nicht dafür! Aber verleugnet es auch nicht länger! Weinen ist okay! Weint, dann stehe ich euch bei und lasse es für euch regnen!

Im Video dazu schwebt Sophie mit ihren extrem betonten Wangenknochen und ebenso betonten roten Lippen in den allerschönsten, sich hoch auftürmenden Wolken. Gegen Ende setzt dann tatsächlich ein großes Donnern und Blitzen ein. Es regnet in Strömen. Endlich! Spürt man die Tropfen aus dem Bildschirm nicht beinahe auf der Haut? Oder sind das Tränen?

Ein Regenbogen fliegt in dem Video auch vorbei. Er steht wohl in Zusammenhang damit, dass Sophie früher mal einen männlichen Vornamen trug, den sie nicht mehr verwendet. Ob sie transgender ist in dem Sinn, dass im Pass nun das Geschlecht "weiblich" steht, weiß man nicht. Es ist auch egal. Wichtig ist, dass Sophie hier alles zum Regnen bringt. Man möchte das Video stundenlang im Wechsel mit dem Ventilator-Video ansehen. Und vielleicht noch mit dem "Cloudbusting"-Video von Kate Bush aus dem Jahr 1985. Darin spielt Donald Sutherland einen genialen Wetterwissenschaftler. Er hat eine Regenmaschine entwickelt, mit der sich riesige Gewitterwolken in den Himmel zaubern lassen. Er wird von der Polizei festgenommen, weil Regenmachen anscheinend streng verboten ist. Das war eindeutig noch vor dem Klimawandel.

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Quelle:
SZ vom 10.08.2018
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