Pop:Halb sank sie hin

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Feinste kalifornische Melancholie, wie ein Sommerabend, kurz vor Einbruch der Dunkelheit: "Titanic Rising", das neue Album der Sängerin Weyes Blood, über alles, was endet und doch wiederkehrt.

Von Jan Jekal

Ted Turner, Gründer des amerikanischen Fernsehsenders CNN, war vorbereitet. Sollte es zum Weltuntergang kommen und sollte CNN dann noch in der Lage sein, live von ebendiesem Weltuntergang zu berichten, so verfügte Turner in den Achtzigerjahren, dann solle der christliche Choral "Nearer, my God, to Thee" die Aufnahmen der Apokalypse untermalen. In den Archiven des Senders gibt es Videomaterial von einer Militärkapelle, die das Stück spielt, versehen mit dem Hinweis: "Nicht veröffentlichen, bis das Ende der Welt bestätigt ist."

Als Apokalypsen-Soundtrack steht das Stück seit dem Untergang der Titanic hoch im Kurs. Die Kapelle des Ozeandampfers, so geht die Legende, spielte bis zum Untergang des als unsinkbar geltenden Schiffs und geigte auch noch, als schon die letzten Rettungsboote beladen wurden. Ihr Konzert beschlossen die todgeweihten Musiker mit "Nearer, my God, to Thee". Im Tod, das ist der letzte bleibende Trost, ist der Mensch seinem Gott näher als im Leben.

Nun heißt auch das letzte Lied auf dem neuen Album der amerikanischen Musikerin Natalie Mering, die unter dem Namen Weyes Blood veröffentlicht, "Nearer to Thee". Das Album hat sie "Titanic Rising" genannt. Auf dem Cover schwimmt Mering durch ein Schlafzimmer wie durch einen Raum der untergegangenen Titanic; das Bett, die Kommode, der Teddybär, alles steht unter Wasser, und Mering, die langen Haare schwarz schwebend, bewegt sich durch eine versunkene Welt, unergründlich in die Kamera blickend.

Das geflutete Zimmer auf dem Cover korrespondiert mit der raumgreifenden Ästhetik der Musik. Alle Elemente strömen mit müheloser Eleganz zusammen wie Wasser, das alles umspült und umspielt: die Streicher, die Pedal-Steel-Gitarre, das Klavier, das sanft aufspielende Schlagzeug, und Merings helle Stimme, deren zaghaftes Vibrato vom mächtigen Hallraum verstärkt wird. Häufig hört man ihren Gesang doppelt, in close harmony mit sich selbst, nah beieinander liegende Töne, die sich zu einer entkörperlichten Geisterstimme verbinden, dem Singen einer Sinkenden oder Versunkenen. An unerwarteten und deshalb besonders wirkungsvollen Momenten wagt Mering den Ausbruch, geht plötzlich hoch mit ihrer Stimme, jagt die exquisit arrangierten Stücke zu emotionalen Höhepunkten.

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Mit ihrem Produzenten Jonathan Rado, der in der Glam-Rock-Band Foxygen spielt und dessen herausragende Kenntnisse über opulente Analogsound-Ästhetik hier zum ersten Mal auf ebenbürtiges Songwriting trifft, hat sie einen warm schwingenden Mikrokosmos erschaffen; ein Album wie ein geheimer Ort. Würde man "Titanic Rising" jemandem in die Hand drücken mit dem Hinweis, es handele sich um ein übersehenes Meisterwerk aus den Siebzigern, kaum jemand würde daran zweifeln. Die Referenzen liegen auf der Hand: Die Südkalifornierin bewegt sich in der Tradition der summertime sadness von Joni Mitchell und Stevie Nicks. Noch leuchtet das goldene Licht der Abendsonne, aber man ahnt schon die Dunkelheit der Nacht. Ihre Lieder klingen nicht nach Pastiche oder Hommage, sondern wie in Klänge verwandelte Erinnerungen an diese Musik, sie sind weniger greifbar, schwebender, undefinierter, aber nicht weniger schön.

Erinnerung, Verlust und Sehnsucht sind die bestimmenden Motive der Texte. "The movies I watched when I was a kid/ The hopes and the dreams", singt sie, sich an das Grundvertrauen in die Welt erinnernd, das sie als Kind empfunden und als Erwachsene verloren hat. Ihr Album, erzählte sie in einem Interview, sei vom Klimawandel geprägt, von apokalyptischen Gedanken, vom Gefühl der Machtlosigkeit, den Niedergang des Planeten nicht aufhalten zu können. Vom Zweifel daran, Kinder haben zu wollen. Aber auch von Hoffnung, vom Glauben wider besseren Wissens, vom Bewahren der Würde im Angesicht des Entsetzlichen: "Nearer, my God, to Thee". In der Musik, so sagt es der Titel des Albums, steigt das gesunkene Schiff wieder empor.

© SZ vom 10.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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