Pop:Geschichtensucher mit Dudelsack

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Die Münchner Band "Schandmaul" findet ihre Themen im Mittelalter - aber nicht nur dort

Von Christian Jooß-Bernau, München

Im Vorraum ihres Proberaums in Gröbenzell liegt auf dem Regal neben Instrumentenkoffern eine Glocke. Ein massives Ding, das Schlagzeuger Stefan Brunner gerade so eben rauswuchten kann. Früher, da war das die Feuerglocke eines alten Hauses. Stefans Frau ist Architektin. Was praktisch ist, wenn man eine Glocke braucht. Eine Aufhängevorrichtung muss noch gebastelt werden, dann darf die Glocke mit auf die nächste Tour. Es gibt da nämlich ein Lied auf ihrem neuen Album "Leuchtfeuer", bei dem vier Musiker aus der Band unbeschäftigt sind. Und einer, so haben sie sich das vorgestellt, der könnte die Glocke klingen lassen. "Tjark Evers" heißt die Nummer. In Ostfriesland ist Tjark eine Berühmtheit. Eine tragische. Es war der 23. Dezember 1866. Tjark, der auf die Navigationsschule ging, ließ sich mit einem Boot nach Baltrum übersetzen, um Weihnachten mit seinen Eltern zu feieren. Der Nebel war dicht. Tjark wurde am Strand abgesetzt. Erst als das Boot verschwunden war, merkte er, dass er nicht auf der Insel stand, sondern auf einer Plaat - einer Sandbank. Tjark kannte das Meer und sah sein Schicksal klar. Und hatte im Bewusstsein des nahenden Todes noch Zeit, eine Nachricht an seine Familie zu schreiben und sie in einer Zigarrenkiste, ursprünglich als Geschenk gedacht, dem Meer zu übergeben. Die Kiste wurde angespült, Tjark Evers nie gefunden.

Schandmaul sind in einem Reiseführer auf die Geschichte gestoßen, als sie für eine Hochzeit nach Ostfriesland unterwegs waren. In der ersten Version des Liedes peitschten noch die Wellen einer Rock-Band über den Text. Auf ihrem Album ist es jetzt sehr einsam geworden um Tjark. Nur ein Klavier und ein Cello begleiten ihn, der von seiner letzten Stunde singt. Da brandet nicht die See, hier steigt todesklamm das Wasser um einen der noch ruft: "Ich bin Tjark Evers aus Baltrum."

Sänger Thomas Lindner ist ein Schrank von einem Kerl. Ein Sänger, der den Sessel im Proberaum ausfüllt und sich seine sanft qualmende Stimme mit vielen Zigaretten hart erarbeitet hat. Geborenen wurde er bei Bremen - und das hört man auch. Meerthemen sind fester Bestandteil der Band. Wenn seine Tochter aus dem Haus ist, möchte Lindner wieder in den Norden. Das wird in ungefähr 18 Jahren sein. Die Tochter ist gerade drei. Von wo er zur Probe anreise sei ihm eigentlich egal, sagt Lindner. Dass er dabei voraussetzt, dass es dann Schandmaul immer noch gibt, ist gar nicht mal so gewagt. Die ersten 18 Jahre hat die Band gerade hinter sich gebracht.

Verliebt ins Meer: Matthias Richter, Martin Duckstein, Stefan Brunner, Birgit Muggenthaler-Schmack, Anna Kränzlein und Thomas Lindner (v. l.). (Foto: Robert Eikelpoth)

Den ersten Proberaum hatten sie im Keller der Musikkneipe "Hexe" in Gröbenzell. Damals, als es hier noch ein lebendiges Musikleben gab. "2004 waren dann alle im Wasser", sagt Lindner, und will, Seemann der Herzen, der er ist, sagen, dass sich damals endgültig alle entschlossen hatten, als Profimusiker ihr Geld zu verdienen.

Hier in diesen Souterrainräumen in Gröbenzell kann man gut ermessen, wie sich ein Leben als Rockmusiker anfühlt. Gleich nach dem Interview muss sich Lindner an ein E-Mail-Interview setzen. Der Laptop glost schon fordernd. Was sein muss, muss sein. "Wir sind sechs Geschäftsführer von einem mittelständischen Unternehmen", sagt Lindner. Neben ihm sitzt Schlagzeuger Stefan Brunner. "Manche glauben, dass die Musik der Dreh- und Angelpunkt in diesem Geschäft ist. Das stimmt aber nicht. Der Dreh- und Angelpunkt ist heute Verwaltung, E-Mails, Steuer, KSK und Gema", findet er. Brunner stemmt einen Großteil der Organisation, seine Eltern unterstützen ihn bei der Buchhaltung. Schandmaul hören sich auch auf ihrem neuen Album an wie eine Band, die schon lange die Ideen einer Starexistenz für einen künstlerischen Realitätssinn drangegeben haben. Ein Duett mit der Finnin Tarja Turunen schlug die Plattenfirma vor, schließlich hat die auch gerade ein Album veröffentlicht und zu bewerben. Schandmauls Sound, im weitesten Sinne inspiriert vom Mittelalter, ist immer offen für Erweiterung. Birgit Muggenthaler-Schmack, Herrin der Flöten und Pfeifen, hat diesmal die Uilleann Pipes mit ins Studio gebracht - den klassischen schottischen Dudelsack, der mit einem Blasebalg unter dem Ellenbogen aufgepumpt wird und in dieser Koordination diverser Tätigkeiten ziemlich schwer zu spielen ist. Dass das affig aussehe, finden die Herren beim Interview. Eine Meinung, die doch ein wenig undankbar ist.

Anna Kränzlein wiederum, einst mit Geige und Drehleier auf der Bühne, hat sich mittlerweile um Bratsche und Cello erweitert. Und war so in der Lage ein Streichorchester Aufnahmespur für Aufnahmespur auf das Album zu schichten. "Orleans" heißt der erste Song, der einen mächtigen Auftritt schafft. Es geht um Johanna, oder eben Jeanne d'Arc. Wieder so ein Song, der im Studio erst zu seiner Größe fand. Und wieder eines dieser speziellen Schandmaul-Themen, in diesem Fall geschrieben von Birgit Muggenthaler-Schmack. So ganz wohl muss einem nicht sein, wenn in Zeiten von Fundamentalismus und Nationalismus die Geschichte einer religiös übermotivierten Minderjährigen mit Vaterlandsfimmel hervorgekramt wird. Lindner aber findet, es gehe hier vorrangig um die Faszination dieser starken Frauenfigur.

Er selber setzt sich regelmäßig auf Spuren, die in die Geschichte führen. "Jack O'Lantern" beispielsweise bereitet mit Lust am Detail die Sage um den alten irischen Jack auf, die schnurstracks zu Halloween führt. Geschichtsunterricht ist bei Schandmaul gerade deshalb so ein Vergnügen, weil die Gruppe sich selber spürbar über Entdeckungen freut. In dieser Hinsicht die ambitionierteste Nummer ist der "Schachermüller-Hiasl". Nachdem Lindner Rosenmüllers Film geguckt und sich grundsätzlich eingelesen hatte, ließ er sich Fallakten aus dem Landgericht Augsburg kommen. Der Rest der Band, wartete derweil auf die Geburt des neues Songs über den Räuber Kneißl. Und Lindner fand zu einer Meinung über diese Figur. Kein Volksheld ist der, kein Robin Hood. Sondern einfach nur eine "arme Wurst", sagt Lindner.

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Gerade waren sie mit Unheilig und dem Grafen auf dessen letzter Tour unterwegs. Das Publikum mussten sie sich jeden Abend erst erobern. Nimmt man den Titelsong ihres Albums "Leuchtfeuer" und dessen heimelige Metaphorik, die die Gemütlichkeit gegen die stürmische Welt setzt, kann man sich vorstellen, dass auch Unheilig-Fans ein Herz für Schandmaul haben können. Der Graf aber ist Rundumschlagerversorger und Schandmaul schaffen es weit darüberhinaus. Weil sie Mut zur Realität haben. Eine einzige Sache, die sei in seinem Text über Kneißl, die arme Wurst, nicht korrekt, beichtet Lindner - und das fällt ihm sichtbar schwer. Kneißls Bruder starb nicht an Skorbut. Was will man machen. Es gibt Augenblicke, da geht der Reim vor.

Schandmaul, Sa., 17. Dezember, 19.45 Uhr, Zenith

© SZ vom 20.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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