Süddeutsche Zeitung

Pop:Gefangener der Liebe

Der Songwriter Ryan Adams hat das beste Springsteen-Album geschrieben, das der Boss nie aufgenommen hat - und dabei das Liebeslied als Protestsong entdeckt.

Von Julian Dörr

Man muss sich die Karriere des amerikanischen Sängers und Songschreibers Ryan Adams als eine beständige Suche nach dem Tiefpunkt vorstellen. Also, nach dem absoluten emotionalen Nullpunkt, nach dem Ort, wo es schlimmer nicht mehr werden kann. Den hat er nun gefunden. In einem Papierkorb. Es ist der Moment der vollkommenen Enttäuschung: Wenn die Papierkugel den Rand des Papierkorbs trifft und dann verspringt. Die finale Niederlage, ein ebenso vernichtendes wie universelles Gefühl. Und nun Gegenstand eines Pop-Songs: "Crush it up into a paper ball, let it fly/ It hits the wall, hits the trash can on the side." Ist natürlich eine Metapher. Für die vernichtende Kraft der Liebe und die Hilflosigkeit und den allgegenwärtigen Weltschmerz dieser Tage.

"Anything I Say To You Now", so heißt der Papierkugelsong, ist das Herz von Ryan Adams' neuem Album "Prisoner" (Blue Note), seinem sechzehnten im achtzehnten Karrierejahr als Solo-Künstler. Einiges nicht allzu Bedeutendes hat der Fleiß über die Jahre hervorgebracht, aber auch ein paar großartige tearjerker, wie man Schnulzen im Englischen ganz ohne Häme nennt. Man denke nur an den zartbitteren Country-Schmelz von "Jacksonville City Nights" oder "Heartbreaker", die Königin aller Trennungsalben. In letztere Kategorie fällt auch sein neues Album.

Es klingt wie das beste Spätachtziger-Bruce-Springsteen-Album, das Springsteen nie aufgenommen hat. Vom Orgel-Intro der Eröffnungssingle "Do You Still Love Me?", über die effektbeladenen Schwummer-und-Klirr-Gitarren und die Stahlarbeiter-Mundharmonika, bis hin zum Saxophon-Outro von "Tightrope" ist alles breitester Nostalgierock. Hall überall. Auf Adams' Stimme, auf dem Schlagzeug, auf allen Spuren. Das klingt völlig aus der Zeit gefallen. Und ist doch ganz gegenwärtig.

Ryan Adams ist nämlich nicht nur ein großer, fast schon manischer Nostalgiker mit eigenem Retro-Studio mitten in Hollywood, sondern auch einer der großen Romantiker des Pop. Weshalb er eine Sache wie kein Zweiter beherrscht: traurige Liebeslieder schreiben. Und "Prisoner", das sind zunächst einmal zwölf sehr, sehr traurige Liebeslieder, die sich ganz tief in den Kitsch wühlen - es geht um Liebesgefängnisse, Spukschlösser, Flügel und Freiheit - und die sich dann doch gekonnt am Klischee vorbeiquetschen. Da verzweifelt wirklich einer an der Liebe und der Welt. So sehr, dass Worte nichts mehr wert sind: "Anything I say to you now is just a lie."

Es ist nun sicher gewagt, darin das ganze lähmende Dilemma unserer Zeit zu lesen. Beim Wort "Lüge" hat man dieser Tage einfach der Trump-Reflex. Und andererseits hat Adams selbst die Deluxe-Kisten-Version seines Albums "End of World Edition" genannt. Und die Single "Doomsday" am Tag vor Trumps Vereidigung veröffentlicht. Auf Instagram schrieb er: "Hab mir gedacht, heute sei der richtige Tag."

Was sollen wir also tun, wenn alles wie eine Lüge erscheint? Wenn dieser Satz nicht nur für Liebende gilt, sondern auch gleichermaßen für alle Lager? Für die, die uns Lügen erzählen? Und für uns, die wir uns selbst belügen?

Man müsste dann "Anything I Say To You Now", den Papierkugelsong, und all die anderen traurigen Lieder auf "Prisoner" als Protestsong lesen. Gerade weil sie das Gegenteil behaupten: die Kapitulation. Ryan Adams mag am Tiefpunkt angekommen sein, seine Kunst hat ihren Höhepunkt erreicht. Auf die finsteren Zeiten, die ihn umgeben, reagiert er mit einem Eskapismus, der nur auf den ersten Blick Eskapismus ist. Sicher, da träumt sich einer zurück in das Amerika seiner Kindheit und Jugend. Da ist aber auch einer, der an die Letztgültigkeit der Liebe glaubt. Weshalb er Kapitulationslieder singt, die eigentlich Protestsongs sind. Damit morgen alles besser werde. Because love trumps hate.

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Quelle:
SZ vom 13.02.2017
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