Pop:Die Philosophie der Samples

Bad Stream

Mittels elektronischer und gedanklicher Erweiterung wird aus dem Gitarristen Martin Steer ein Konzeptkünstler.

(Foto: Pascal Bünning)

"Frittenbude"-Gitarrist Martin Steer arbeitet am zweiten Album seines Projekts Bad Stream und präsentiert das Ergebnis live als Sound-Installation mit visuellem Überbau

Von Stefan Sommer

Angela Merkel, Mark Fisher, Jean Baudrillard und Greta Thunberg haben Stunk. Die Kanzlerin, der Pop-Theoretiker, der Soziologe und die Klimaaktivistin keifen sich so leidenschaftlich an, fallen sich so wütend ins Wort, ärgern sich so dringlich über die Welt, dass gar nicht auffällt, dass einer der Beteiligten eigentlich am 6. März 2007 in Paris verstorben ist. Dieses Gespräch hat es so nämlich nie gegeben, die Streithähne sind sich nie begegnet. Für das neue Stück von Bad Stream "Homo Suizidalis Vol.1 (Metamodern Cybertime Holes)" lässt der Musiker Martin Steer jetzt aber ihre Stimmen aufeinandertreffen. Er türmt Sprachaufnahmen der Streitenden zu babylonischem Kauderwelsch, als säßen die Lebenden mit den Toten gemeinsam am Tisch.

"In dem Wechselspiel aus meinen sehr persönlichen Texten zoome ich mit den Samples quasi raus ins Universelle, Globale. Sampling ist für mich in meiner Musik ein wichtiges Tool, um Kontexte zum Gesamtkonzept herzustellen und diese auch zu verschieben", beschreibt Martin Steer seine Arbeit mit den Tonschnipseln. Er sagt: "Ich will die Welt aus verschiedenen Perspektiven betrachten, um sie besser zu verstehen. Die collagenartige Arbeit mit Musik und Samples hilft mir dabei ungemein."

In "Homo Suizidalis Vol.1 (Metamodern Cybertime Holes)" finden sich weitere popkulturelle Versatzstücke, die er aus ihrem ursprünglichen Kontext herausschneidet und in seine Musik einpflanzt: Szenen aus italienischen Horrorfilmen, Cyberpunk-Culture, Videospiele, Dokumentationen, wissenschaftliche Vorträge. Verbunden mit einem experimentellen Electronica-Sound entsteht ein Gesamtkunstwerk, das wie ein mentaler Browser Hunderte Tabs im Kopf öffnen soll: "Wir leben in einem Zeitalter des digitalen Info-Overloads, daraus entstehen oft eine nackte Panik und Depression. Musik und Kunst haben für mich die Aufgabe, die unendlichen Geschwindigkeiten und Mengen der Datenströme in den viel langsameren Rhythmus unserer Gehirne zu übersetzen. Bad Stream ist für mich eine Art Schutzschild - ein musikphilosophisches Anti-Depressiva."

Das etwa 70 Minuten lange Werk ist ein Vorbote für das 2020 erscheinende zweite Album von Martin Steer unter seinem Alias Bad Stream. Der in Geisenhausen bei Landshut aufgewachsene Neu-Berliner, der als Gitarrist der Elektropunk-Band Frittenbude bekannt wurde, hat seinen Sound seit seinem selbstbetitelten Debütalbum von 2018 stetig weiterentwickelt. Bildete "Bad Stream" Steers Liebe zu Radiohead und den Industrial-Klangwelten der amerikanischen Band Tool ab, soll der Nachfolger jetzt mehr dem Techno, Acid und Breakbeat der Neunzigerjahre nachforschen. "Die erste Platte ist das Ergebnis eines fünfjährigen, intensiven und auch aufreibenden Schaffensprozesses, bei dem ich meine musikalische Sprache und meine inhaltliche Tonalität finden konnte. Dementsprechend befreiter gehe ich an das zweite Album ran. Es wird experimenteller, elektronischer, geisterhafter und gleichzeitig auch poppiger, persönlicher und zugänglicher", sagt Steer.

Auch live wird sich einiges tun: Bad Stream wandelt sich für die anstehende Mini-Tour noch stärker zum audio-visuellen Projekt. Glitch Art, generative Visuals, Post-Internet Feed und Visual Poetry sollen die komplexe, fordernde Musik in eine brachiale, radikale Social-Media-Ästhetik übersetzten - das Nebenprojekt des Gitarristen entwickelt sich zur Live-Soundinstalation. Zusammenarbeiten wird Steer dafür mit dem iranischen Videokünstler Arash Akbari, den er über das Internet kennengelernt und bisher noch nie getroffen hat. Warum auch: "Im Grunde ist auch unsere Existenz mittlerweile Hybride und von der Simulation vereinnahmt. Umso wichtiger ist es für mich diesen Zustand auch musikalisch zu übersetzen."

Bad Stream; Donnerstag, 21. November, 19 Uhr, Milla, Holzstraße 28

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