Süddeutsche Zeitung

Pop:Der Exzentrickser

Lesezeit: 5 min

Kann man sich als 76-jähriger Soulsänger mit Hilfe von Stimmmanipulations-Software neu erfinden? Eigentlich nicht. Jerry Williams alias "Swamp Dogg" schon.

Von Klaus Walter

Kann es sein, dass eines der Pop-Alben der Saison von einem 76 Jahre alten Afroamerikaner namens Jerry Williams kommt, der kleinere Hits landete, bevor er 1970 als Swamp Dogg einen Neustart riskierte und seither von ein paar Spezialisten als Exzentriker des Southern Soul verehrt wurde? Ja, das kann gut sein. Und vielleicht muss man sogar noch einen ganz anderen Umweg machen, um heute von Swamp Dogg zu erzählen: 1948 besichtigte Bertolt Brecht in der Schweiz ein Freibad des Architekten Max Frisch und schrieb: "Diese Riesenbassins für Tausende machen übrigens das Hauspostillen-Gedicht 'Vom Schwimmen in Seen und Flüssen' schon zur historischen Reminiszenz."

Ganz ähnliches kann man über die Stimmmanipulationssoftware Autotune sagen, die im zeitgenössischen Pop allgegenwärtig ist. Sie hat das DooWop-Schmachten oder das Soul- Flehen, das man heute noch hört, schon zur historischen Reminiszenz gemacht. Auf seinem neuen Album "Love, Loss, and Autotune" (Joyful Noise) stellt sich Swamp Dogg der Frage, wie er in Zeiten von Autotune noch über Liebe und Verlust singen kann. Eigentlich ist Autotune ein digitaler Effekt zur Optimierung der Stimme, zum Vertuschen falscher Töne. Man kann den Effekt aber auch Übersteuern und dann als schmückendes Accessoire einsetzen. Altmodische Popfans hassen das humanoide Flattern des Gesangs, das Autotune bewirkt.

Wie kommt nun ausgerechnet der Soulman Swamp Dogg an die akustische Teufelsdroge, als ein Protagonist jener Musik, die von ihren weißen Liebhabern gern als unmittelbarer, unverfälschter Ausfluss der schwarzen Seele unter Ausschaltung von Hirn und Technik (miss)verstanden wird. Hier kommen seine Partner ins Spiel, zwei weiße Männer, halb so alt wie er, Ryan Olson von der Elektropop-Band Poliça und Justin Vernon, Posterboy des introvertiert-sensiblen Vollbartpop.

Mit ihnen hat sich Swamp Dogg verbündet, weil er diesmal auf keinen Fall wie Swamp Dogg klingen wollte. "I want to shock the shit out of them", sagt er, und: "Ich will mich neu erfinden." Der Satz ist ja längst mehr Drohung als Versprechen. Die Neuerfindung des Swamp Dogg via Autotune hat allerdings nichts von verzagt-disziplinierter Selbstoptimierung. Und wie klingt es? Aus dem Nebenzimmer croont einem eine Männerstimme herüber, leicht zitternd: "Answer me, oh, my love, Just what sin have I been guilty of?", gestern warst du noch mein, doch unsere Liebe geht dahin. Eine gewisse Wehmut steigt auf, angenehm warm, aber dann, aus der Etage drüber: übersteuerte Streicher, Fanfarenattacken, hört der Nachbar wieder Schönberg? Plötzlich leiert die schmeichelnde Croonerstimme. Hat jemand den Plattenspieler von 33 auf 45 gestellt? Nix da, Croonerschwermut und Störgeräusch kommen aus dem selben Raum. "Answer Me, My Love" ein Standard, unsterblich gemacht von Nat King Cole. Und von Joni Mitchell in ihrer tieftraurigen Altersbilanz "Both Sides Now".

Auch Swamp Dogg legt die Trauer ob der Vergänglichkeit von Leben & Liebe in seinen Vortrag und schickte die Aufnahme an seine Ko-Produzenten. Die bearbeiteten den Vokalpart mit digitalem Sperrfeuer, bugsieren die Stimme nach 53 Sekunden ins Groteske und erzeugen einen Verfremdungseffekt aus dem Brecht-Bilderbuch: Nein, länger als 53 Sekunden kann man "Answer Me, My Love" heute nicht mehr so schön singen wie Nat King Cole vor 64 Jahren, ohne die Todsünde des alternden Sänger zu begehen: Sehnsucht nach einer Idylle zu beschwören, die so nie existiert hat.

Selten war die Rede von der Dekonstruktion so angebracht wie bei diesem Album-Auftakt, selten war ein Song gleichzeitig so deprimierend und so euphorisierend. Angeblich wusste Swamp Dogg nicht, was Olson und Vernon mit seinem Rohmaterial anstellen würden, aber das Resultat habe ihn überzeugt. Da stellt sich natürlich die Frage nach der Autorenschaft und beim Kritiker kommt sofort ein Verdacht auf: Wie kommt der alte Mann auf Autotune? Haben seine cleveren jungen Freunde ihm das angedreht? Selbst wenn es so wäre, braucht es anderseits einigen Mut, sich darauf einzulassen. Aber wie auch immer: In steinerweichenden Elektro-Balladen betrauert Swamp Dogg die Liebe seines Lebens, seine Frau und Ex-Managerin Yvonne Williams, die 2003 starb.

"Love, Loss, and Autotune" dreht sich allerdings auch um schwindende Männlichkeit. Was bedeutet es, wenn die gebrechliche Stimme des einst so virilen Sängers verfremdet wird? Schämt er sich? Versteckt er sich? Im grandiosen "I'll Pretend" trauert Swamp Dogg um eine Frau, die ihn verlassen hat für einen Anderen. Im Video sitzt der alte Mann im goldgelben Kimono auf dem Doppelbett, später mit leerem Blick am Rand des Swimmingpools, der ebenfalls leer ist, kein Wasser zum Schwimmen. Schließlich wirft er sich in Schale, Dreiteiler und Hut in Pink, blingbling, und macht sich schweren Schrittes auf zum Dinner for One in der Stadt. Ich tue so, als wärst du im Urlaub, singt er zur Bluesgitarre, ich tue so, als würde ich nicht durchdrehen über den Verlust. Am Ende zieht der alte Mann sich aus, zeigt seinen nackten Bauch, "Please come back, I can't live like that", und steigt in Unterhose ins Bett.

Die Selbstentblößung beschämt den Betrachter, funktioniert aber, weil die Bluesgitarre in eine absolut zeitgenössische Soundkulisse gepflanzt und Swamp Doggs Stimme mit Autotune verjüngt wird, auch versext. Seltsam euphorisierend wirkt die Trauer, es ist auch die Trauer eines Mannes, der sich daran erinnert, wie er früher alles neue heiße Zeug mitgemacht hat, der spürt, wie toll dieser Autotune-Kram sein kann, der aber auch weiß, dass das nicht für ihn gemacht ist.

Jerry Williams hat sich allerdings schon 1970 einmal neu erfunden, als Hund aus den Sümpfen des Südens. Der Extra-Konsonant am Ende von Dogg markiert den Unterschied zwischen dem gewöhnlichen und dem harten Hund. Und steht für Doggy Style, Jahrzehnte vor Rappern wie Nate oder Snoop Dogg. Auch mit 76 redet der harte Hund gern über Sex. Im beschwingten "I´m Coming With Love On My Mind" kehrt er heim zur Geliebten, er hat ihr ein schwarzes Negligé gekauft, sie möge Chanel 69 auflegen und den Dom Pérignon 69 öffnen. Wieder so ein Spagat zwischen Peinlichkeit und Euphorie, die Details der sexuellen Vorfreude mit der unsubtilen doppelten Neunundsechzig, höher und höher fliegt dabei die Autotunestimme. Und noch irrer: "Sex With Your Ex". Ist in Ordnung, wenn die Chemie stimmt löst Sex mit der Ex die Spannung, auch ohne Liebe. Diesen Rat gibt Swamp Dogg zu dissonantem Synthielärm und Gitarrenfreakouts, die Funkadelics Eddie Hazel zur Ehre gereicht hätten. In "$$$Huntin" wiederum klingt Funkadelics "Funky Dollar Bill" an, Swamp Dogg berichtet aus der Welt der Bullshit Jobs, der Jagd nach den grünen Scheinen, jeder Freitag ist ein schwarzer, und im Knast war er auch schon. Das Autotune-Flattern spiegelt akustisch den Glanz der Waren, die er sich nicht leisten kann. Swamp Dogg ist vier Jahre älter als Donald Trump, den Spike Lee "Agent Orange" nennt, andere reden vom "Tangerine Mussolini". Und er ist nicht so reich wie der Präsident. In seiner pornografischen Drastik, hart am Terror der Intimität, hart am Obszönen, fast scham- und schonungslos, aber nur fast - in all dem ist "Love, Loss, and Autotune" aber auch ein Kommentar zur Lage der Nation. Glotzt nicht so romantisch auf diesen Swamp Dogg, hätte Brecht gesagt.

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Quelle:
SZ vom 18.10.2018
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