Süddeutsche Zeitung

Pop-Autobiografie:Stiefelkauf mit Vivienne Westwood

Die Punk-Gitarristin Viv Albertine erzählt in ihrer Autobiografie von ihren drei großen Lieben: Musik, Menschen, Stil. Die Geschichte einer Befreiung.

Buchkritik von Meredith Haaf

Oh, eine Pop-Autobiografie. Zu erwarten ist unter diesem Label eine eher mittelmäßig geghostwritete Anekdotenschleuder, aber Viv Albertine ist offensichtlich die Definition eines Multitalents. "A Typical Girl" (großartig ins Deutsche übertragen von Conny Lösch) ist schon formal ein ungewöhnliches Buch, es erzählt in knapp siebzig Minikapiteln, generell chronologisch, aber doch ziemlich assoziativ und streng persönlich, ihr Leben in einer poetisch-derben Sprache.

Und auch, wenn Albertine, was die Begegnungen mit prominenten Zeitgenossen angeht, eine Art Forrest Gump der britischen Musikgeschichte zu sein scheint - einmal steigt Bowie bei einem Konzert auf sie drauf, es gibt einen gescheiterten Blowjob an Johnnie Rotten, Vivienne Westwood berät sie beim Stiefelkauf, sie verbringt eine Nacht mit Nancy (der Freundin von Sid Vicious), die schrecklich schnarcht - so funkelt ihr Buch weniger wegen der Namen, sondern wegen der Gedanken, die sie sich zwischen den Geschichten macht.

Viv Albertine kommt 1954 in Australien zur Welt. Vier Jahre später übersiedelt die Familie nach London, Albertines Kindheit ist geprägt von Armut, den Gewaltausbrüchen der Erwachsenen und einem offensichtlich von Anfang an vorhandenen Freiheitsdrang. Als ihr Vater erst die Kinder mit einem Gürtel verprügelt und danach die Familie zu einem gemeinsamen Abendessen in der Küche nötigt, lernt sie die Macht der Musik kennen: "Das Radio läuft, die Titelmelodie von Sing Something Simple von den Swingle Sisters sickert durch den Raum, die Gesangharmonien - widerlich schmalzig - durchdrängen die Atmosphäre und verdrängen die Stille. Bis heute kann ich diese Fünfziger-Jahre-Harmonien nicht ausstehen - das ist wie mit alkoholischen Getränken, von denen man als Teenager zu viel getrunken hat; allein vom Geruch wird einem ein Leben lang schlecht."

Den Sinn des Lebens entdeckt die junge Viv zwischen den Rillen einer schwarzen Plastikscheibe

John Lennon rettet die Musik für die kleine Viv, das erste Mal "Can't Buy Me Love" zu hören beschreibt sie als Erweckungserlebnis: "Bis heute dachte ich, das Leben besteht aus traurigen, wütenden Erwachsenen, langweiliger Musik, zähem Fleisch, verkochtem Gemüse, Kirche und Schule. Jetzt ist alles anders: Ich habe den Sinn des Lebens entdeckt, verborgen zwischen den Rillen einer flachen schwarzen Plastikscheibe."

Vivs Vater verlässt die Familie, das Leben wird leichter und glücklicher. Ihre Mutter unterstützt sie in ihren Interessen, gesteht ihr sämtliche Freiheiten zu, arbeitet Tag und Nacht, um sie zur Kunstschule schicken zu können. Und so ist Viv Albertines Geschichte von Anfang an und ganz selbstverständlich auch eine Geschichte der großen Solidarität und Liebe, die es zwischen Frauen geben kann, und der vielfältigen Wege, auf denen Frauen sich gegenseitig stark machen und inspirieren.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Zufällig trifft Viv früh am Morgen vor dem Plattenladen Mick Jones, den sie aus der Kunstschule kennt und der später The Clash mit Joe Strummer und Paul Simonon gründen wird. Doch es ist der Tag, an dem das Album "Horses" von Patti Smith erscheint, und Viv hat keine Zeit für den seltsam gekleideten schlaksigen Vogel: "Mir ist schlecht vor Aufregung (. . .) Ich renne nach Hause und lege die Platte auf. Patti Smith wirbelt durch Bewusstseinsströme, stürzt kopfüber in Poesie und löst sich auf in Sex. (. . .) "Horses" setzt bei mir eine Idee frei: Mädchen besitzen eine eigene Sexualität, die eigenen Bedingungen gehorcht und dem eigenen Vergnügen oder der kreativen Arbeit dient, keinem anderen Zweck, auch nicht dem, einen Mann abzubekommen."

Immer wieder gibt es solche Passagen, in denen jene monumentalen Gefühle zum Leben erwachen, die nicht nur Musik, sondern Popkultur überhaupt bei jungen Menschen auslöst. Das sinnliche Erlebnis erhält immer wieder einen politischen Resonanzraum. Für Viv gehört Kleidung unbedingt dazu: "Ich versuche auf allen möglichen Gebieten zu schockieren, besonders mit meinen Zeichnungen und Klamotten (. . .) Eine Mischung aus Pippi Langstrumpf, Barbarella und Jugendknast. Männer sehen mich verwirrt an, wissen nicht, ob sie mich ficken oder umbringen wollen. Meine Aufmachung bringt etwas in ihren Köpfen durcheinander. Gut so."

Erst mit 21 ringt sich die musikversessene junge Frau dazu durch, eine Gitarre zu kaufen. Obwohl sie nur zwei Griffe kann, steigt sie erst bei Sid Vicious und schließlich bei der neuen Frauen-Punk-Band The Slits ein: "Wir betrachten uns nicht als Entertainerinnen, die wollen, dass das Publikum vierzig Minuten lang seine Sorgen vergisst, sondern als Kriegerinnen. Die meisten im Publikum haben noch nie Mädchen Musik machen hören, schon gar nicht mit so einer Fickt-Euch-Attitüde, wie wir sie an den Tag legen."

Und viele fühlen sich genau davon provoziert: Die Musikerinnen auf der Bühne werden bespuckt, sie müssen sich mit Zuschauern prügeln und vor Vergewaltigern fliehen, auf offener Straße werden sie wegen ihrer provokanten Kleidung immer wieder belästigt und angegriffen. Zweimal stechen unbekannte Männer auf die exzentrische junge Sängerin Ari Up ein. Es ist eine düstere Erkenntnis dieses Buchs, welch hohen Preis die teilweise sehr jungen Frauen dafür zahlten, eine Ära mitprägen zu dürfen.

Wie bei guten Platten gibt es auch hier eine B-Seite mit Stücken, die stiller, aber wichtiger sind

The Slits waren von Anfang an geniale Dilettantinnen: Albertine konnte ihre Gitarre nicht mal selbst stimmen, Drummerin Palmolive hatte nie ein Instrument in der Hand gehabt, bis sie die Band gründete. Doch viele ihrer Songs waren kühn, originell und im wahrsten Sinne des Wortes funky - schmutzig, aufregend tanzbar. Die BBC-Legende John Peel bezeichnete seine Radio-Session mit The Slits als eine der zehn besten seiner Karriere: "Ihre Unfähigkeit zu spielen, gepaart mit ihrem unbedingten Willen zu spielen, war einfach grandios."

Die Slits gehen mit The Clash und anderen Bands auf Tour, und Albertine tischt in ihrer Autobiografie aus dieser Zeit Anekdoten mit einer charmanten Beiläufigkeit und schlecht kaschierten Häme auf, als säße man gerade mit seiner wilden Tante beim vierten Chardonnay: Auf dem Weg zum Hotelfrühstück sieht sie eines morgens "Chrissie Hynde aus Paul Simonons Zimmer kommen. Paul erzählt uns später, Chrissie habe ihre Tätowierung (ein Delphin, glaube ich,) nicht mehr haben wollen und versucht, sie mit einem Bimsstein abzuschmirgeln. Danach habe sie ihm aus der Bibel vorgelesen. Muss wohl ein sehr kultivierter sexy Abend gewesen sein." Auf Dauer lässt sich der Lifestyle jedoch nicht aufrechterhalten: Weggefährten begehen Selbstmord, sterben an Überdosen, ziehen sich ins bürgerliche Leben zurück. Nach ihrem zweiten Album trennen sich The Slits, Vivs Welt bricht zusammen.

An dieser Stelle endet der erste Teil - die "A-Seite" des Buches, und an diesem Punkt denkt man noch: Dieses Buch sollte wirklich jede junge Frau lesen. Man trauert als Nachgeborene, wenn ältere Freundinnen erzählen, ja klar, The Slits, die seien damals halt im Radio gelaufen, während ein Mädchen der Neunzigerjahre sich im Radio mit sogenannter Girl Power abspeisen lassen musste.

Aus dem Punkgirl ist eine Hausfrau geworden

Aber dann kommt die B-Seite - und wie das ja bei guten Platten oft der Fall ist, enthält sie die Stücke, die weniger krachen, aber fast noch wichtiger sind. Albertine zieht sich komplett aus der Szene zurück und beginnt mehrere neue Leben: Sie arbeitet als Filmemacherin, heiratet und bekommt - nach einer grausam frustrierenden In-Vitro-Fertilisation endlich ihr langersehntes Kind. Kurz nach der Geburt wird bei ihr Krebs diagnostiziert, sie überlebt nur knapp.

Die Familie zieht weg aus London, ans Meer. Aus dem Punkgirl ist eine Hausfrau geworden, zehn Jahre vergehen, über die sie schreibt: "Nichts interessiert mich außer meiner Tochter." Ihr Mann hält sie geistig und finanziell klein, beobachtet ihre ersten Versuche, wieder kreativ zu werden, mit Skepsis. Ari Up und Tessa Pollit starten ein Revival der Slits, Albertine lehnt ab - und fährt alleine zum Konzert nach New York. Der Funke springt über. Ohne Musik geht es immer noch nicht. Als sie nach achtzehn Jahren die Gitarre wieder zur Hand nimmt, interessiert sich in ihrem Zuhause nur ihre Tochter dafür. Mit Anfang fünfzig wird Albertine eine zweite Musikerinnenkarriere zuteil.

Auch wenn das Buch, wie es der charmante Originaltitel besagt, diese drei Dinge: "Clothes. Music. Boys" gebührend feiert - die eigentliche Erkenntnis aus Viv Albertines bewegtem Leben ist: Nichts bedeutet so viel wie Bindung und die Befreiung, die ihr andere Menschen - vor allem Frauen - geschenkt haben. Und spätestens jetzt weiß man: Es geht hier nicht nur um die Girls. Man wünscht jeder Frau, ach was, jedem Menschen, so eine Viv Albertine im Leben. Da das nicht möglich ist, darf man zumindest jedem wünschen, ihr Buch zu lesen.

Viv Albertine: A Typical Girl - Ein Memoir. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Suhrkamp Nova, Berlin 2016. 478 Seiten, 18 Euro. E-Book 15,99 Euro.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3027100
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 10.06.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.