Alben der Woche:Trifft den Zeitgeist wie Hamlet seinen Papa

James Blake steht kurz davor, das "Ti Amo" des identitätsgrübeligen Digitalzeitalters zu schreiben. Die Deerhunter stellen sich den ganz großen Themen und Joe Jackson bleibt einer von den Guten.

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Joe Jackson - "Fool" (Earmusic/Edel)

Joe Jackson - 'Fool'

Quelle: dpa

Joe Jackson ist ein komischer Vogel. Dieses Jahr begeht der Engländer das 40. Jahr seiner Popkarriere, und während man bei anderen an so einem Punkt gern mal schaut, was für Höhen und Tiefen es in der langen Zeit gab, finden sich bei Jackson alle Hakenschläge gleich in den ersten zehn Jahren. Da wollte der Mann das Besondere um jeden Preis. Nach zwei, drei tollen Pop-Platten veröffentlichte er ein Swing-Album (als Swing gerade keinen interessierte); später eine Platte, die live vor Publikum aufgenommen wurde - alle Zuschauer mussten sich verpflichten, keinen Mucks zu machen; dann einen Filmsoundtrack; eine Klassikplatte; ein Doppelalbum, auf dem nur drei Seiten bespielt waren; später eins, bei dem alle Stücke zu einer durchgehenden Kette komponiert waren. Dann ging ihm die Puste aus. In den folgenden 30 Jahren veröffentlichte er weiter Musik, aber eher unauffällig. Auch auf dem neuen Album "Fool": abgeklärter Elder-Statesman-Pop, Melodien, die gut ins Ohr gehen, aber nie die Unvergesslichkeit seines einen Riesenhits "Steppin' Out" erreichen. Trotzdem, Joe Jackson ist einer von den Guten.

Max Fellmann

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Chainsmokers - "Sick Boy" (iCol/Sony Music))

Chainsmokers

Quelle: iCol/Sony Music

Oh ja, es hat sich viel verändert. Früher lief eine Plattenveröffentlichung so: Musiker nimmt Album auf, Musiker veröffentlicht Album, dazu gibt's das dann auch im Internet, eher so als Ergänzung und für unterwegs. Läuft natürlich längst nicht mehr so. Aber die Chainsmokers, das hypererfolgreiche Remix-Duo aus New York, dreht das Procedere jetzt endgültig um. Im vergangenen Jahr haben sie immer wieder einzelne Songs veröffentlicht, insgesamt neun, die liefen im Radio und vor allem bei Spotify, Apple Music und allen weiteren Streamingdiensten. Erst dann wurden die Songs zusammengekehrt, um ein weiteres Stück ergänzt und zu Weihnachten als Album veröffentlicht. Aber immer noch nicht als CD, sondern nur bei iTunes. Als physisches Produkt aber - und jetzt sind wir beim altmodischen Handel mit Tonträgern -, als CD kommt das Album "Sick Boy" erst jetzt in die Läden. Zumindest da, wo es überhaupt noch Regale für CDs gibt. Es werden sich vermutlich so um die fünf Exemplare verkaufen. Aber das interessiert die Band wohl wenig. Sie lassen über ihr Label ausrichten, dass die Songs des Albums längst mehr als eine Milliarde Streams im Internet erreicht haben. Warum also noch die Herstellung vorsintflutlicher Silberscheiben? Vermutlich reine Liebhaberei.

Ach so, die Musik. Wie immer eine geschmeidige Mischung: verträumte Gesangslinien, verhuschte Akkorde, dann aber zu jedem Refrain satte Bässe, im Hintergrund gern mal großraumdiscokompatible Synthesizer-Fanfaren. Die Chainsmokers beherrschen die Kunst, Mainstream-Pop zu machen, der zugleich nach Die-ganze-Nacht-Tanzen und Die-ganze-Nacht-Kuscheln klingt.

Max Fellmann

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Deerhunter - "Why Hasn't Everything Already Disappeared?" (4AD)

Deerhunter

Quelle: 4ad/Beggars Group/Indigo

Die ganz großen Themen also: Nichts weniger als das zunehmende "Verschwinden von Kultur, Humanität, Natur, Logik und Emotion" beklagt die US-Indie-Rock-Band Deerhunter auf ihrem achten Album (also genauer: im Pressetext der Platte) angesichts der Spaltereien Donald Trumps oder des Überreizungs- und Übersättigungspotenzials der Digitalisierung. Ihre künstlerische Antwort: eine Art Konzeptalbum über den Tod. Ebenso morbide wie melodieselige Endlichkeitsreflexionen. Schunkelig dahinfedernder Barock-Pop auf Cembalo-Basis, ätherische Synthesizer-Instrumentals, fuzzig britzelnde Gitarren, Motown-Gedächtnis-Saxophonsätze und feine Xylophon-Klöppeleien. Inhaltlich geht es um das freudige Umarmen des Todes. Dessen universale Unvermeidlichkeit stellen Deerhunter dem ganzen politischen, klimatischen und kapitalistischen Überhitzungswahnsinn da draußen als relativierendes Moment gegenüber. Nicht unbedingt beruhigend, aber ausgesprochen hörenswert.

Martin Pfnür

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James Blake - "Assume Form" (Polydor)

James Blake

Quelle: Polydor

Trifft James Blake noch den Zeitgeist? Wenn, dann vermutlich eher so wie Hamlet seinen Papa. Blakes Crossover aus britischer Elektrodüsternis und Internetsoul ist auf seinem neuen Album, "Assume Form", in den besten Stücken perfektioniert - und wirkt damit auch ausgereizt. "Barefoot In The Park", der Song mit Rosalía, ist einer der interessantesten auf dem Album. Ihr Flamenco-Pop wird gebrochen durch seine Arrangements. Jedes erotische Feuer und jedes Liebesjubilieren kippt an irgendeiner Stelle ins Nachdenkliche, Dubbige, manchmal sogar Triphoppige. Sein Sounddesign ist sehr detailverliebt, aber immer fokussiert. Kein Geräuschkramladen. Überladen und flach werden seine Songs eher dann, wenn es ihm an Ideen mangelt, die ihre Sinnlichkeit aus dem Kleinen gewinnen. Wenn er nicht in Schönheit ertrinken will, muss er sich irgendwann mal neu erfinden. Sonst könnte es ihm passieren, dass er bald das "Ti Amo" des identitätsgrübeligen Digitalzeitalters schreibt. Die mittleren Songs des, was die Qualitätskurve angeht, ein U darstellenden Albums, kommen dem schon gefährlich nahe. Aber einstweilen macht er noch hochwertigen, berührenden Transpop. Zum Glück!

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Bruno Sanfilippo - "Pianette" (Ad21)

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Quelle: SZ

Meistens wird der argentinische Pianist und Komponist Bruno Sanfilippo der zeitgenössischen klassischen Musik zugerechnet. In die Ecke gehört er genauso (oder genauso wenig) wie Chilly Gonzales, Hauschka oder Keith Kenniff, der seine verträumten Klavierstücke unter dem Namen Goldmund veröffentlicht. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Klaviersolisten, die ihre Einflüsse durchaus aus der Klassik beziehen, vor allem Frédéric Chopin und Erik Satie sind als Paten oft rauszuhören, gelegentlich auch Philip Glass und Steve Reich. Ob man das aber jetzt im eigentlichen Sinne klassische Musik nennt oder eher Instrumentalpop oder noch mal ganz was anderes, ist eine sehr akademische Frage. Auf seinem neuen Album "Pianette" (Ad21) entwirft Sanfilippo Miniaturen, sehr zart, sehr behutsam, über ein freundliches Adagio geht es nie hinaus. Melodien doppelt er gern in Oktaven, darunter perlen sachte die Akkorde, manchmal steht er mit einem Bein schon halb im "Ave Maria". Er zeigt zwar weder den Mut von Hauschka, noch den Witz von Gonzales. Aber Romantiker, die sich an ihrem Soundtrack zur "Fabelhaften Welt der Amélie" langsam sattgehört haben, könnten mit "Pianette" glücklich werden.

Max Fellmann

© sz.de/biaz/crab
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