Alben der Woche:Ein Mensch, kein Paradiesvogel

Boy George und Culture Club spielen genauso naive und wichtige Musik wie einst. Und Thom Yorke von Radiohead macht jetzt schnarrende und knarrende Soundtracks für Horrorfilme.

Robyn - "Honey" (Konichiwa Records)

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(Foto: Konichiwa Records)

Herrlich, diese Synthesizer-Arpeggios! Wie sie durch den Hallraum perlen und sich fein verzwirbeln wie DNA-Stränge. So steigt "Honey" (Konichiwa Records) ein, das neue Album der Schwedin Robin Miriam Carlsson alias Robyn. "Missing U" heißt der Song, und danach wird das Album nur noch besser, schöner, melodiöser, kitschfreier, spaßiger. Robyn ist im Pop eine einzigartige Figur: eine Frau, die in jungen Jahren als das startete, was man gemeinhin Pop-Marionette nennt, und die sich danach geschäftlich unabhängig machte, um musikalisch aber eben nicht in Indie-Klischees zu verfallen, sondern nahtlos an großen Pop mit Charts-Anspruch anzuknüpfen. "Because It's In The Music" könnte ein neuer ABBA-Song sein, den man auf einem Flipper eingespielt hat. "Send To Robyn Immediately" ist ein träumerischer Slow-House-Track, der auf einem heruntergebremsten Sample aus dem alten Stöhn-Clubhit "French Kiss" von Lil' Louis basiert. "Beach 2k20" ist ein alberner Party-Song, den man aber schon vor der Party hört, um sich in Stimmung zu bringen. So spontan alles wirkt, so sehr ist in den Details zu hören, dass Robyn sich zur Perfektionierung Zeit gelassen hat. So wie man es vermutlich nur dann kann, wenn man zu den eigenen Bedingungen arbeitet.

Julia Holter - "Aviary" (Domino Records)

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(Foto: N/A)

Dass es Julia Holter mit ihrer Musik mal in die Charts schaffen würde, war nicht so zwingend klar. Als sie vor sieben Jahren auftauchte, verarbeitete die Amerikanerin auf ihrem ersten Album gleich Euripides zu anspruchsvollen Klangcollagen. Da steckte zwar auch Pop drin, vor allem aber Klassik und viel Experiment. Kein Wunder, Julia Holter hat einen Abschluss in Elektronischer Musik am California Institute of the Arts, wir reden hier also eher nicht von ABBA. In den folgenden Jahren wurde ihre Musik zugänglicher, eine Art Sphärenpop mit Björk-Momenten, der auch in England und Deutschland Fans fand. Ihr neues Album "Aviary" (Domino Records) macht es diesen Fans allerdings wieder schwerer: Musik, bei der man automatisch zum Programmheft greifen will, manches klingt wie das stimmende Orchester vor Beginn der Oper, dann wieder sirren die Synthesizer, ein ständiges Dröhnen und Raunen aus dunklen Klangschichten, fließend, schwebend, nur selten in Form klassischer Songs, dazwischen aber immer wieder plötzliche Momente der Schönheit. Wenn Kate Bush sich "Aviary" anhört, wird sie Julia Holter möglicherweise adoptieren wollen.

Public Service Broadcasting - "White Star Liner" (Play It Again Sam)

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(Foto: N/A)

Herrlich, solche Nerds kann man sich kaum ausdenken: Die drei Musiker von Public Service Broadcasting tragen Sakkos mit Ellbogenflicken, dazu Kassenbrille und Fliege, auf ihren Bandfotos posieren sie höflich wie die Mitarbeiter einer britischen Universitätsbibliothek. In Archiven fühlen sie sich tatsächlich sehr wohl: Schon für ihr erstes Album vor fünf Jahren verwendete Mastermind J. Willgoose, Esq. (möglicherweise ein Pseudonym) alte Tonbandmitschnitte, historische Aufnahmen und Filmdialoge, heute unterhält die Band beste Beziehungen zum British Film Institute, das ihnen Material zur Verfügung stellt. Der Witz an Public Service Broadcasting ist, dass diese Fundstücke nicht etwa mit sphärischen Klangcollagen versetzt werden, sondern liebevoll eingebettet sind in euphorischen Gitarrenpop, geschult an britischen Größen wie The Smiths oder XTC, nur eben ohne Gesang. Mäandernd, traumhaft, dabei aber temporeich und federleicht: Man könnte das gut Kraut-Pop nennen. Auf der EP "White Star Liner" (Play It Again Sam) hat sich das Trio jetzt die Geschichte der Titanic vorgenommen. Zugegeben, kein ganz unentdecktes Thema, aber die Kombination von Musik und Sprecherstimmen geht wieder wunderbar auf.

Boy George & Culture Club - "Life" (BMG Rights Management/Warner)

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(Foto: AP)

Paradiesvogel. Pop-Exzentriker. Mit diesen Worten wird im Jahr 2018 über das Comeback von Boy George und seiner Band Culture Club geschrieben. Und das ist auch schon das ganze Problem. Beinahe 20 Jahre ist es her, dass Culture Club ihr letztes Album veröffentlichten, diese Hit-Produktionsmaschine aus den Achtzigern, die einst Diversität in den Pop brachte, bevor der überhaupt wusste, dass er ein Problem damit hatte. Das große Comeback "Life" (BMG Rights Management/Warner) klingt nun - Albtraum aller Kritiker und Fest für alle Fans - wirklich exakt genauso wie früher. Der Bass schnurrt, Hände klatschen auf den Beat, jeder, wirklich jeder Refrain wird von einem Chor nochmal eine Euphoriestufe höher gepusht. Und mit "Human Zoo" findet sich sogar ein Feel-Good-Update von "Karma Chameleon". Auf "Let Somebody Love You" heißt es zu schlingerndem Offbeat und stotternder Reggae-Gitarre allen ernstes: "Love is revolution". Im Video zum Song feiert die Band ein großes Straßenfest aller Hautfarben, Religionen und Orientierungen. Man mag das naiv finden, aber wichtig ist es doch. Weil Menschen wie Boy George auch im Jahr 2018 nicht als Menschen gesehen werden, sondern als Paradiesvögel.

Thom Yorke - "Suspiria (Music for the Luca Guadagnino Film)" (Beggars)

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(Foto: N/A)

Es war wohl an der Zeit: Thom Yorke hat seinen ersten Film-Soundtrack komponiert. Sein Radiohead-Bandkollege Johnny Greenwood hat ihm oft genug vorgemacht, wie es geht (unter anderem mit den fantastischen Scores zu Paul Thomas Andersons "There Will Be Blood" und "The Master"). Yorke hat sich dafür "Suspiria" ausgesucht, das Remake eines Horrorfilms, mit dem Dario Argento vor 40 Jahren für Aufsehen sorgte. Damals kam der Soundtrack von der Progrock-Band Goblin, Motive daraus hat Yorke übernommen und bearbeitet. Taugt das Ganze auch was ohne den Film? Geht so. Einzelne Songs singt Yorke auch mal zu elegischem Klavier. Die meiste Zeit aber ist die Musik nur Klangteppich. Da rumoren die Celli, irgendwo sirrt und fiept und schnarrt und knarrt immer irgendwas. In manchen Stücken stehen Geräusche der Film-Tonspur rum wie Fremdkörper, vielleicht soll das unheimlich wirken; wirkt aber eher wie ein Versehen. Leidenschaftliche Radiohead-Verehrer können in "Suspiria (Music for the Luca Guadagnino Film)" (Beggars) ruhig mal reinhören, aber das Album kann weder mit Radiohead mithalten noch mit den Soundtracks von Johnny Greenwood.

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