Pop 2017:Das sind die besten Alben des Jahres

Ein tiefer Riss durch die Gesellschaft, lasziv-fordernde Sex-Songs, eine Platte für das Jahr der großen Männerverunsicherung - und die scharfsinnige Seelenkunde einer jungen Frau im 21. Jahrhundert.

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Body Count - "Bloodlust" (Sony Music)

Body Count - Bloodlust

Quelle: Sony Music

Wie sieht die Welt eigentlich von ganz unten aus? Vom Dreck aus hochgeschaut? Dort, wo die Menschen sich täglich gegenseitig umbringen, für ein paar Dollar, für Drogen, aus Rache. Wie müssen die ganzen Angeber-Instagram-Accounts mit den Klunkern und Palmen und Milchkaffees und dicken Karren dort wirken? Und was macht es mit einem, wenn ein Mensch, ein Präsidenten wie Donald Trump voller Verachtung und Rassismus auf die sozial Abgehängten blickt? Es sind viele kluge Bücher dazu erschienen in diesem Jahr. Und ein irres Album: "Bloodlust" (Sony Music) ist eine millimetergenaue Vermessung menschlicher Unmenschlichkeiten. Der Abarten von Gewalt und ihrer Ursprünge. Der Gräben, die gerade immer breiter zwischen den Menschen bersten. Und das alles erzählt als Frontbericht, mittendrin, festgehalten mit wackeliger Handkamera. Gitarren, Bässe und Drums wie großkalibrige Waffen. Breaks und Hits wie Faustschlägen. Phasenweise ist dieses bluttriefende Stück Kunst widerwärtig. Und genau darin tut es dem Pop, der sich gesellschaftlich doch recht irrelevant angefühlt hat in diesem Jahr, sehr, sehr gut.

Jakob Biazza

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Alex Cameron - "Forced Witness" (Secretly Canadian)

Alex Cameron - Forced Witness

Quelle: Secretly Canadian

Die Pornoindustrie hat uns nicht nur die VHS-Kassette, Blu-ray und das Online-Bezahlen mit Kreditkarte geschenkt, sondern auch Alex Cameron, den ersten großen Pop-Künstler im Zeitalter der niedrigschwellig verfügbaren Internetpornografie. Keiner schreibt gerade so wundervoll räudige Songs über die Abgründe der Liebe (und des Internets). Über Versager und Verzweifler, Großmänner und Kleinkriminellen. Über den Dreck in den finstersten Ecken, den Kitsch in den am hellsten strahlenden Träumen - und den ganzen lächerlichen Quatsch dazwischen. Dazu gibt es tropische Grooves, ein meatloafiges Ergriffenheits-Duett, jede Menge sonnenmüde, mit Goldketten behangene Yacht-Rock-Gitarren und immer wieder: das samtige Saxofon von Kumpel und Business-Partner Roy Malloy. "Forced Witness" (Secretly Canadian) ist die Platte für das Jahr der großen Männerversunsicherung. Cameron hat keine Gnade übrig für diese Typen. Aber grenzenlose Liebe.

Julian Dörr

3 / 6

Dirty Projectors - "Dirty Projectors" (Domino)

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Quelle: SZ

Der große amerikanische Indiepop-Avantgardist David Longstreth hat auf dem neuen selbstbetitelten Album seiner "Dirty Projectors" (Domino) das Unmögliche geschafft: Er hat tatsächlich den Indiepop mit dem R'n'B versöhnt, also einerseits mit Funk und Soul und andererseits mit tiefen und tiefsten elektronischen Stolper-Bässen, nervösen Klacker-Beats, schwer drückenden Synthie-Attacken und sonstigen seltsamen Sample-Schnipseln aller Art. Dazu gibt's feinstes Stümperpiano-Geklimper und Longstreths herzzerreißend elegisch-theatrale Stimme, mal ausführlich im Falsett, mal mit der Stimmhöhenmanipulations-Software Autotune humanoid verflattert. Aber jetzt kommt das Beste: So anstrengend eklektisch wie sich das liest, ist es eben genau nicht. Im Gegenteil. Besonders in Songs wie "Keep Your Name", "Death Spiral" oder "Up In Hudson" ist es eher ein unwiderstehlicher Pop-Rausch, in dem man gleichzeitig tieftraurig und sehr, sehr euphorisch sein darf. Musik für die Ewigkeit gerade eben jetzt. Abgesehen davon wurde die Zeile "The winner takes nothing" noch nie überzeugender vorgetragen als hier.

Jens-Christian Rabe

4 / 6

Lorde - "Melodrama" (Universal)

Lorde - Melodrama

Quelle: Universal Music

Man muss es hier vielleicht noch einmal aufschreiben, um es wirklich glauben zu können: Vier Jahre nach ihrem Millionen-Seller "Pure Heroine" ist Ella Yelich-O'Connor immer noch gerade erst 21 Jahre alt. "Melodrama" (Universal), das zweite Album der Neuseeländerin, ist smarter Pop in der goldenen Mitte aus Mainstream-Appeal und scharfsinniger Seelenkunde einer jungen Frau im 21. Jahrhundert. Mit cineastischer Genauigkeit skizziert Lorde die emotionalen Verwirrungen des Erwachsenwerdens: Liebeskummer, rauschhafte Partynächte, flüchtige Momente der Selbsterkundung. Obendrein ist das Album über und über voll mit großen, warmen und euphorischen Popmomenten: Der Schatten von Bowies Glam-Rock-Jahren liegt über "Liability", im House-Piano von "Green Light" funkelt Robyns Dance-Pop, "The Louvre" atmet Frank Oceans Emo-Soul und "Writer In The Dark" ist wie ein glühendes Destillat aus den besten Kate-Bush-Songs. Trotzdem gehört am Ende jeder Song immer ganz allein der von innen heraus leuchtenden Protagonistin im Zentrum.

Annett Scheffel

5 / 6

Kelela - "Take Me Apart" (Warp)

Kelela - Take Me Apart

Quelle: Warp Records

Lass uns Wahrheit oder Pflicht spielen, bis wir nichts mehr anhaben außer dieser Musik: Die R'n'B-Sängerin Kelela Mizanekristos aus L.A. singt auf ihrem Debütalbum "Take Me Apart" (Warp) aus Perspektive einer selbstbestimmten schwarzen Frau so laszive und fordernde Sex-Songs, wie man sie seit langem nicht gehört hat. Die Sounds sind federnd und ätherisch und stehen ganz in der Tradition des elektronischen schwarzen R'n'B - von Stevie Wonder bis Janet Jackson und ihren Produzenten Jam & Lewis. Kelela führt diese futuristische Tradition zu neuer Selbstbestimmtheit. Nicht zuletzt, indem sie bei diesem Album als Executive Producerin sämtliche Fäden selbst in der Hand hielt. "Take Me Apart" ist wie eine warme Welle, die einen sanft anhebt und 54 Minuten später beglückt wieder absetzt.

Jan Kedves

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Tornado Wallace - "Lonely Planet" (Running Back)

Tornado Wallace - Lonely Planet

Quelle: Running Back

Schon Ende 2016 munkelten Kenner, "Lonely Planet" (Running Back) von Tornado Wallace würde das Album des Jahres werden. Also, das Album des Jahres 2016. Der Australier Lewie Day hatte sich schon einige Zeit einen Namen gemacht, sein Debüt wurde heiß erwartet. Dann verschob sich die Veröffentlichung auf Januar 2017, wodurch es nun höchstens das Album des Jahres 2017 sein kann, aber wenn man beispielsweise in "Trance Encounters" hineinhört, kann man sich zu Recht fragen, ob denn nun unbedingt 2017, oder 2117, oder 1967. Überhaupt: Welche Bedeutung hat Zeit? Wechseln die Jahreszeiten nicht ohnehin im Sekundentakt? "Lonely Planet" ist weder Tag- noch Nachtmusik, es ist elektronisch und organisch, rastlos mit seinen hellen Gitarren und vorwärtsfallenden Rhythmen, ein Moment außerhalb der Zeit.

Juliane Liebert

© SZ.de/doer/biaz
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