Süddeutsche Zeitung

Polnische Gegenwartsliteratur:Knutschereien im wilden Osten

Der polnische Autor Ziemowit Szczerek erzählt in seinem Roman "Mordor kommt und frisst uns auf" vom Reisen in der Ukraine - ein befreiendes Buch, das alle Klischees durcheinanderwirbelt.

Von Jens Bisky

Im Westen kann man ankommen, im Osten reist man. Łukasz aus Krakau fährt in die Ukraine, und als der Grenzer ihn fragt, warum er denn dahin wolle, antwortet er: "Die Knochen meiner Ahnen knutschen". Es wird eine heftige Knutscherei, in die der junge Pole sich begibt, lang und intensiv, ein Kuddelmuddel mit der Gegenwart des postsowjetischen Ostens, in der die Ahnen eine geringere Rolle spielen, als man ahnt. Immer dabei aber sind Vorbilder wie Jack Kerouac, sind die Bilder vom "wilden Osten" und die Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem: "Wenn wir soffen, unsere Zeit totschlugen, Drogen nahmen, nach billigem Kitzel und großem Schwulst suchten, dann nicht, um gegen irgendwen zu rebellieren, nicht einmal, um etwas Neues zu erleben, denn das war ja alles schon durch, durch, durch - einfach nur, um überhaupt etwas zu tun. Unserm Leben wenigstens kurzfristig einen Sinn zu verpassen. Oder eher einen Pseudosinn, dessen waren wir uns bewusst, aber alles andere fanden wir letztlich auch nur pseudosinnvoll."

Łukasz, der zwecks Umgehung aller Ausspracheprobleme auch Lukas genannt werden kann, ist der Erzähler in Ziemowit Szczereks Roman "Mordor kommt und frisst uns auf". Das Buch, eine fiktive Reisereportage und zugleich eine Satire auf das Genre, ist in Polen bereits 2013 erschienen, also vor der Annexion der Krim. Es war für den Nike-Literaturpreis nominiert und hat den Paszport-Preis der Wochenzeitschrift Polityka erhalten.

Das Buch ist literarisch eine Freude, intellektuell ein Vergnügen und obendrein erfährt der Leser vieles über jenen Osten Europas, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hinter einer Mauer aus Klischees und Projektionen verschwand. Einer der Kleinbusse, die hier "Marschrutka" heißen" und manchmal deutsche Aufschriften tragen - "Kreuzberg Kebab Mustafa oder Wurst und Schinken GmbH" - bringt Lukas und andere nach Lwiw, ins österreichische Lemberg, ins polnische Lwów.

Lwów ist ein legendärer Ort der polnischen Kultur und entsprechend beliebt bei Reisenden, worauf sich die Lemberger selbstverständlich eingestellt haben. Sie sprechen die Touristen an, erzählen von der Vorkriegszeit, trällern ein Liedchen, plappern in vorgetäuschtem, sehr melodischem Dialekt. Gefühle überschwemmen die polnischen Polen, sie greifen zu den Brieftaschen. So macht man Geschäfte.

Szczereks Reisender freilich glaubt, dass die Stadt gar nicht existieren dürfte, so groß und mächtig sei der Mythos von ihrem Verlust. Aber sie kümmert sich nicht um ihren Mythos und steht einfach da, als sei sie nicht verloren gegangen. Also braucht man was zu trinken. Aber weder der Vigor-Balsam noch Kwass oder Wodka oder "Dshintonic" betäuben die Frage, was man hier suche, warum man hierher fahre.

Der Ahnen wegen? Oder doch nur, um sich auch einmal überlegen fühlen und auf die Hinterwäldler im Osten herabschauen zu können? Manche der Reisebekanntschaften suchen das intensivere Dasein, den Hardcore-Osten mit Schmutz, Suff, Korruption und Prügelei. Andere scheinen sich Einblicke ins wahre Polentum oder wenigstens die "slawische Seele" zu versprechen. Der polnische Titel des Buches ist länger und verspricht auch noch eine "geheime Geschichte der Slawen".

Zu dieser geheimen Geschichte gehören das Spiel mit den verschiedenen Sprachen, Zitate aus historischen Kämpfen und die Alltäglichkeit der Verwestlichung, deren erstes und nahezu überall anzutreffendes Zeichen die Plastetüte ist. Während er von den Fahrten nach Drohobytsch oder Odessa, auf die Dörfer oder nach Transkarpatien berichtet, entfaltet Szczerek eine satirische Kasuistik der kulturellen Unterschiede, all der Klischees von Wesensart, Identität, Zivilisierung, Fortschritt. Er tut dies in kleinen, geschickt konstruierten Szenen, die den Leser zwischen staunendem Erschrecken - das kann doch nicht wahr sein - und erschrockenem Staunen - das ist wohl wahr - schwanken lassen.

Taras heißt ein ukrainischer Pole, der mit seinen Eltern in Polen lebte, Pole sein wollte. Doch da man ihm immerzu sagte, er sei ein "ukrainischer Hund" zog er zurück, nicht ohne nun seinerseits die Leute im Osten zu verachten. Taras neigt zu Monologen, die Wirklichkeit versteht er mithilfe von Tolkiens "Herr der Ringe" als Konflikt zwischen dem ordentlichen, freien Westen und dem wilden, deprimierenden Osten. Die Deutschen seien die Zwerge, die Franzosen die poetischen Elben, Mordor sei slawisch. Auf den Einwand, das könne nicht stimmen, folgt der Seufzer, dann hätte ja Tolkien die Slawen ignoriert und er, Taras wisse auch nicht, was besser sei, "die Verkörperung allen Übels auf dem Kontinent zu sein oder gar nicht zu existieren". Szczerek treibt alle Klischees bis zum Umschlagpunkt, er ironisiert das Genre der Reportage - wozu mit den Leuten reden, sie können doch nur das Offensichtliche sagen -, er treibt Spott mit Überlegenheitsgefühlen. Aber er ist kein Comedian, sonder ein großartiger Satiriker. Er schreibt, als gäbe es keine Autoritäten und als seien Konventionen nur Spielmaterial, aber er lässt allen Figuren ihre Würde - und nimmt sich selbst nicht so wichtig.

Babuschkas wären in der Lage, Herrscher zu verjagen. Denn eine Babuschka schlägt niemand

Thomas Weiler hat diese Geschichten in ein mitreißend rhythmisches, frisches Deutsch übersetzt. Er findet treffende Wendungen: ich "schlappte zum Bahnhof", "duschoidal" für eine abenteuerlich installierte Dusche, "russig" für jenes Verhalten, das man von Russen zu erwarten sich berechtigt glaubt, das sie aber nur unwillig an den Tag legen. Oder ist die Weigerung, sich mit Wodka abfüllen zu lassen, nur eine besonders "russiges" Getue?

Auf der Reise entfalten sich Großimaginationen, etwa von einer Rebellion der Babuschkas, der Großmütter, die allein Herrscher und Oligarchen verjagen könnten, denn niemand, ob in Moskau, Minsk oder Kiew, würde eine Babuschka schlagen. Oder von einer heiteren Ukrainisierung weiter Teile des Kontinents. Dieses Buch zeigt, wie man ohne Kopfschmerzen die ermüdenden Identitätsdebatten übersteht: losfahren, einen Wodka kippen, nachdenken und dann auf in die Knutschereien mit der Wirklichkeit.

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Quelle:
SZ vom 26.04.2017
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