Süddeutsche Zeitung

Polizeifotos aus der RAF-Zeit:Voller Verachtung

Der Konzeptkünstler Jochem Hendricks hat einen Bilderschatz entdeckt: Polizeifotos aus den Hochzeiten der RAF.

Von Annette Ramelsberger

Rote Fahnen, überall. Geschwenkt auf dem Platz vor dem Frankfurter Römer, getragen durch die Einkaufstraße Zeil. Von Hunderten, von Tausenden Demonstranten. Proletarier aller Länder, vereinigt euch. Tod dem Faschismus. Der Wasserwerfer biegt schon um die Ecke. Gezielter Strahl in die Fahnen. Großes Auseinanderstieben. Alle nass. Der Polizist drückt auf den Auslöser.

Hausbesetzer, immer wieder. Rumpelbuden, verdreckte. Bierflaschen im Regal. Auf das gesprenkelte Linoleum hat einer gekritzelt: "Die Schweine von heute sind die Schnitzel von morgen." Er meint auch den Wachtmeister, der mit weißer Mütze und Lederhandschuhen die linke Zeitschrift Konkret hochhält - für die Spurensicherung. Zwei nackte Frauen im Afrolook auf dem Titelbild und der Ankündigung: Urlaub zu dritt. So was haben die Hausbesetzter auf dem Klo liegen. Der Polizist drückt auf den Auslöser.

Die Welt aus der Sicht der Polizei

Und dann die Demonstranten mit ihren Palästinensertüchern. Voller Verachtung im Gesicht, verschränkt die Arme der Frauen, in die Hüften gestemmt die der Männer. Einer dreht sich um und zeigt den nackten Hintern. Schaut sich auch noch um über die Schulter, ob die auf der anderen Seite es wirklich sehen. Sie sehen es. Sie sehen alles.

Die Polizisten in und um Frankfurt haben alles fotografiert und sie haben alles aufbewahrt. Eine ganze Ära - von 1973 bis 1985. Rote Fahnen, Hausbesetzer, Geiselnahmen, Bankeinbrüche, Kundgebungen, der Kampf gegen die Startbahn West am Frankfurter Flughafen. Die Welt aus Sicht der Polizei. Ein ganzes Archiv voll bleierner Zeit. Der Staat betrachtet seine Feinde. Eine hat nun zurückgeblickt. Eine, die selbst im Visier war.

Die Gefahr, die drohen könnte

Die Fotografin Magdalena Kopp hat in ihrer Jugend die "Revolutionären Zellen" in Frankfurt mitgegründet, sie ging mit dem Terroristen Johannes Weinrich in den Untergrund, heiratete dann den am meisten gesuchten Terroristen der Siebziger- und Achtzigerjahre, den Venezolaner Carlos, genannt "Der Schakal". Und sie saß selbst drei Jahre in Haft für einen versuchten Anschlag in Paris. Um sie freizupressen, legten Carlos und Weinrich Bomben in einem TGV-Schnellzug und auf dem Bahnhof von Marseille. Fünf Menschen starben.

In den Polizeiarchiven dieser Welt liegt die Gefahr, die drohen könnte. Der Verdacht, der sich verfestigen könnte. Das Böse, das sich gleich ereignen könnte: die Verdichtung von Bedrohung. Wer darin eintaucht, fühlt sich umstellt. Jeder Motorradfahrer kann gleich seine Waffe ziehen, in jedem Kofferraum eine Geisel liegen. Es ist die Zeit der RAF.

Auf den Bildern zu sehen ist auch der Austausch von fünf freigepressten RAF-Leuten gegen den entführten Politiker Peter Lorenz. 1977 entführte die RAF Hanns Martin Schleyer. Für ihn wurde niemand mehr ausgetauscht. Man fand seine Leiche in einem Kofferraum.

Einer Bilderschatz, der fast auf dem Müll gelandet wäre

Magdalena Kopp hat nun die Bilder der Polizei entwickelt, vergrößert, aufgezogen. Das hat etwas Dialektisches, Seitenverkehrtes. "Späher und Ausgespähte begegnen sich in umgekehrten Rollen noch einmal und geben sich hinter dem Rücken die Hand", sagt der Frankfurter Konzeptkünstler Jochem Hendricks.

Er ist herumgeschlichen um diesen Bilderschatz, sagt Hendricks, acht Jahre lang. Um dieses Archiv der Frankfurter Polizei, das schon im Müllcontainer gelandet war und dann für die Kunst gerettet wurde. Wie genau, das lässt Hendricks offen. "Ich habe immer mal Dinge gemacht, die grenzwertig waren. Diesmal war nichts Illegales dabei", sagt er. "In der Kunst gehört das Geheimnis immer dazu."

Es ist womöglich profan wie oft bei Behörden: Der Platz fehlt, der Plunder stört, weg damit. Die einen stecken ihr Archiv in den Reißwolf, die anderen stellen es neben den Müllcontainer. Nur selten wird Kunst daraus.

Bilder aus dem Abseits

Da hatte Hendricks nun Tausende Bilder, Filmsequenzen, Standbilder gehoben. Nicht Fotos von Journalisten, sondern Bilder aus dem Abseits. Von hinter der Gardine, von hinter der Barrikade. Geheime Überwachungsfotos, Bilder aus dem Inneren der Polizeiarbeit. Bilder von Playmobil-Figuren, mit denen Verhöre nachgestellt wurden. Bilder aus dem Schießstand, Polizisten beim Üben. Das ist mal niedlich, mal bedrohlich. Vor allem aber: Es ist sehr nah.

Hier fliegt keine Drohne in entfernter Höhe, hier arbeitet keine Überwachungskamera still vor sich hin. Hier filmt ein Mensch, der Polizist. Alles noch Handarbeit, fast nostalgisch. Und auf den Bildern erkennt man die Gefühle: Erstaunen, manchmal Mitleid, oft Angst, Schrecken, auch Verachtung. Doch wie dieses Archiv für die Kunst gewinnen? Wie die Bedrückung übersetzen, die diese Bilder auslösen? Hendricks fand lange nicht den Schlüssel.

Dann traf der Künstler Hendricks die Fotografin Magdalena Kopp. Eine Frau, die ihr ganzes Leben nicht glücklich war, am glücklichsten vielleicht noch, wenn sie in der Dunkelkammer stand. Das konnte sie nun tun für dieses Projekt - fünf Jahre lang. Sie und Hendricks haben aus den Polizeibildern das "Revolutionäre Archiv" gemacht, ein Buch wie ein Ziegelstein, ein "Argument", wie das die Demonstranten nannten, das man auch hätte werfen können (Verlag der Buchhandlung Walther König, 472 Seiten, 38 Euro).

Rot, schwer, dick. "Fast ein Totschläger", sagt Hendricks. Was er schon ein paar Mal als Videoinstallation, als Ausstellung ausgewählter Bilder gezeigt hat, ist nun mit der Hilfe von Kopp und dem Grafiker Harald Pridgar zu einem Werk von elementarer Wucht geronnen.

Kunst und Terror, Bild und Tod. Und die Frau, die das alles zusammenbringt. Der Videokünstler Hendricks und die Ex-Terroristin - für ihn war es sofort klar: Sie war das Missing Link, um seinen Fotoschatz zu bergen.

Der größte Schatz: ein Vergrößerungsapparat

Doch Kopp, die im Juni gestorben ist, war zeitlebens ein zurückhaltender, misstrauischer Mensch. Sie sah sich das alles an, sie hatte Interesse. Sie versuchten es dann auch drei Tage miteinander, später freundeten sie sich sogar an. "Aber nach den drei Tagen waren wir beide gottfroh, dass der andere wieder weg war", sagt Hendricks. "Sie war kein positiver Mensch."

Das war sie bei Gott nicht. Magdalena Kopp war ein Mensch des Zweifels, vor allem an sich selbst. Eine Frau, die aus ihrer kleinbürgerlichen Enge in Neu-Ulm herauswollte, nach Frankfurt ging, von dort in den Untergrund, nach Syrien, nach Libyen, in die DDR, nach Ungarn. Sie ließ sich von Carlos quasi wie als Beute ihrem Freund Weinrich wegnehmen. Erst als er in Haft saß, kehrte sie nach Deutschland zurück.

Die einzige Konstante in diesen Jahren waren ihre Augen, ihre Hände, ihr Talent. Sie hatte Fotografin gelernt, sie hatte mit der legendären Frankfurter Fotografin Abisag Tüllmann gearbeitet. Und ihr größter Schatz war ihr Vergrößerungsapparat - eine Maschine, groß und schwer wie ein Kühlschrank. Sie schleppte das Trumm auf ihrer Flucht durch die Welten sogar mit nach Venezuela.

Der Regisseur Nadav Schirman hat ihr 2012 in dem Film "In the Darkroom" den Platz in der Dunkelkammer des Terrors zugewiesen. In der Dunkelkammer fälschte sie für ihre Genossen Pässe, Führerscheine, tauschte Bilder aus. Diese Frau, die so lange das System bekämpft hatte, entwickelte nun in ihren letzten Lebensjahren die Bilder der Bullen. Und sie tauchte ein in ihre eigene Jugend, in das Frankfurt der Hausbesetzer, der Demonstranten, der roten Fahnen.

Sie sah nun mit den Augen der Polizei: Banküberfall Neu-Isenburg, unten die Dresdner Bank, daneben die "Teppich Etage". Und oben wie verirrt, ein Mann mit Maschinenpistole auf dem Dach. Ein älterer Mann in Anzug und weißem Hemd, der wie festgefroren am Eingang der Bank steht, davor ein Opel Rekord, in den ein Mann mit Mütze und Maschinenpistole eine Geisel zwingt. Die Bilder danach: die zersplitterte Seitenscheibe des Opels, der Steckschuss in der Zierleiste. Das Blut auf dem Beifahrersitz.

Angst, Gegenwehr, Kampf, Tod

Man muss gar nicht wissen, wie dieser Überfall ausgegangen ist. Man sieht: Angst, Gegenwehr, Kampf. Tod. Es sind existenzielle Momente, die in diesem Buch Seite für Seite füllen. Das ist nicht Happening, das ist nicht Joschka Fischer mit seinen Turnschuhen. Fischer war auf einigen dieser Bilder im Polizeiarchiv zu sehen, auch Franz Josef Strauß und Helmut Schmidt bei großen Wahlkundgebungen.

Überall schaute die Polizei zu. Hendricks hat diese Fotos aber nicht ausgewählt. "Wir wollten keine Prominenten, das lenkt nur vom Eigentlichen ab." Und das Eigentliche ist der Archetypus des Menschen, der eine existenzielle Bedrohung erlebt.

Diese Bedrohung hat auch Kopp erlebt, sie konnte mit den Gefühlen, die diese Bilder hervorrufen, umgehen. Sie kannte sie. Offener sei sie gewesen in dieser Arbeit, entspannter als zuvor, sagt Hendricks. Aber glücklich? "Glücklich ist sie nicht geworden." Wenn es um die großen Fragen ihres Lebens ging, dann wurden ihre Augen weit - und sie verstummte. Nun liegt da das "Revolutionäre Archiv". Eine Zeit- und vielleicht auch eine Lebens-Erklärung.

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Quelle:
SZ vom 07.11.2015/luc
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