Politisches Theater:Tut endlich was gegen das Leid der Welt!

Politisches Theater: "Tut endlich was, ihr trägen Zuschauer!" Um ihre Botschaft rüberzubringen, greifen die Aktivisten auf der Bühne zu schwerstem Gerät.

"Tut endlich was, ihr trägen Zuschauer!" Um ihre Botschaft rüberzubringen, greifen die Aktivisten auf der Bühne zu schwerstem Gerät.

(Foto: Birgit Hupfeld)

Die Aktivisten vom Zentrum für politische Schönheit haben großartige Politaktionen gemacht. Jetzt folgt Theater.

Von Christine Dössel

Eines vorweg, zur Beruhigung der Gemüter: Nein, es wurde am Samstag seitens des Theaters kein Tier im Dortmunder Zoo getötet. Das so süße wie beliebte Jaguarbaby Raja erfreut sich nach wie vor seines irdischen Daseins, obwohl an der Fassade des Theaters noch immer das Plakat hängt, das zu seiner Ermordung aufruft: "Raja muss sterben!" Das Berliner Künstlerkollektiv Zentrum für politische Schönheit (ZPS) unter Leitung von Philipp Ruch hatte angekündigt, nach der Uraufführung seines ersten Theaterstücks "2099" in den Dortmunder Zoo zu ziehen und das Tierbaby zu erschießen. Die Aktivisten vom ZPS hatten sich kurz vor der Premiere außerdem dazu bekannt, die beiden Zwergagutis und die drei Zwergseidenaffen in ihrem Besitz zu haben, welche im August aus dem Dortmunder Zoo gestohlen wurden. Bei der Premiere ihres Stücks, so die Ankündigung, wollten sie sie auf der Bühne präsentieren - worauf hin das präsentierende Schauspiel Dortmund sich "ebenso überrascht wie verärgert" von der Sache distanzierte und PR-trächtig damit drohte, die Premiere gegebenenfalls abzubrechen. Ein wahres Affentheater.

Sie meinen es sehr ernst mit ihrer Mission, die Kunst als "fünfte Gewalt im Staat" zu etablieren

Aber wirksam: Tierschützer erregten sich, Zeitungen berichteten, das Fernsehen kam. Da sieht man's wieder, sobald Tiere bedroht werden, sind die Menschen berührt und empört, da gehen sie auf die Barrikaden. Aber was ist mit den Kriegsnotleidenden und Sterbenden in Syrien? Warum jaulen wir da nicht auf? "Auch der Syrer ist ein Säugetier, das vom Aussterben bedroht ist", heißt es in einer Art Bekennerbrief des ZPS. Der Fake-Aufruf zur Tötung des Pantherbabys als "aufrüttelndes Zeichen an die Menschheit" war insofern eine gelungene Inszenierung. Sie fügt sich in eine Reihe von Aktionen, mit denen das ZPS seinem Selbstanspruch nachkommt, eine "Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit" zu sein - und zwar "zum Schutz der Menschheit". Gegen politische Untätigkeit, Gleichgültigkeit, Ignoranz.

Das ZPS meint es ernst mit seiner Mission, es begreift und etabliert die Kunst als "fünfte Gewalt im Staat". In einer aufsehenerregenden Aktion hat es zuletzt die Leichen zweier ertrunkener Flüchtlinge aus Italien nach Berlin überführen und dort auf Friedhöfen begraben lassen ("Die Toten kommen"). Anhänger des ZPS hoben zusätzlich bei einem "Marsch der Entschlossenen" vor dem Kanzleramt symbolische Flüchtlingsgräber aus.

Nun also das erste "richtige" Theaterstück des ZPS, uraufgeführt am derzeit - unter dem Intendanten Kay Voges - ziemlich hippen Schauspiel Dortmund. "2099" fungiert als Kollektivproduktion, weder Autor noch Regisseur sind namentlich ausgewiesen. Es ist davon auszugehen, dass der ZPS-Chefdenker und promovierte Philosoph Philipp Ruch den Text geschrieben und inszeniert hat. Einer, der von Theater keine Ahnung hat - das kann man sehen, so simpel, wie der Abend inszeniert und als Science-Fiction-Plot konstruiert ist. Der dafür umso mehr weiß über die Fehlleistungen der (Menschheits-)Geschichte; über Zahlen, Daten, Tote - das kriegt man um die Ohren gehauen. Nicht, dass man von einem Kunstaktionsbündnis wie dem ZPS großes Schauspiel erwartet hätte, seine Stärken liegen außerhalb der Guckkastenbühne. Aber ein bisschen mehr von den Zweifeln, Fragen, den zynisch-ironischen Showeffekten und spielfreudigen Bühnenerfindungen eines Christoph Schlingensief, an den nicht wenige Unternehmungen des ZPS erinnern, hätte schon sein dürfen - mal davon abgesehen, dass das Stück mehr ein Pamphlet ist denn ein Drama.

In "2099" kommen vier "Philosophen" aus dem titelgebenden Jahr in die Jetztzeit, um uns moralisch-historisch den Marsch zu blasen, sie heißen Morpheus (Christoph Jöde), Grotius (Björn Gabriel), Johann (Uwe Schmieder) und Hercules (Sebastian Kuschmann). Sie tragen Traueranzüge und rußgeschwärzte Gesichter - die erkennungstypische ZPS-Kriegsbemalung -, rennen und brüllen viel herum. Angekündigt waren ursprünglich fünf von ihnen, darunter eine Frau, eine Holocaust-Überlebende, aber die ist wohl auf der Strecke geblieben, weshalb die gut neunzigminütige Moral-Wutpredigt nun unsympathischerweise eine reine Männersache ist. 2099 wird man da hoffentlich weiter sein.

Die vier Weisen aus dem Zukunftsland wissen bereits, was über uns Heutige in den Analen stehen wird: "Die Historiker bezeichnen Ihre Zeit, die Epoche zwischen 1989 und 2032, als das aphilotimische Zeitalter, nach dem altgriechischen Begriff aphilotimia: Ehrvergessenheit." Das sitzt. Sie sind gekommen, um uns - durchaus von der Stehpultkanzel herab und mit Zeigefinger ins Publikum - die Leviten zu lesen. Aber auch zu warnen: "Sie stehen im Anbruch des schlimmsten Jahrhunderts der Weltgeschichte." Weitere Holocausts werden kommen. In China zum Beispiel erhebt sich ein Hao Kim Helian, "größter Massenmörder aller Zeiten, 330 Millionen Tote". In Afrika Victor Adschemba: 42 Millionen. "Ich wünschte, ich wäre an Ihrem Punkt in der Geschichte", sagt Morpheus beschwörend. "Es wäre so einfach. Eine Liga der Demokratien gegen alle Diktaturen. Jetzt, wo Sie noch können, gründen Sie sie!"

"Tut was!" - das ist der Appell an diesem Abend. Schaut nicht zu! Verteidigt den Humanismus! "Bis 2032 werden mehr als 600 Millionen Menschen an Hunger, Armut und Krieg sterben", weiß Hercules. Strenger Blick ins betroffen schweigende Parkett. "Regt sich nichts", konstatiert er bitter. "Muss ich vielleicht noch einmal sagen: 600 Millionen Menschen! 50 000 Tote Tag für Tag." 50 000, die wir hätten verhindern können, oder wenigstens einen - das ist der Appell. Aber auch die Anklage. Denn das ist dieser Abend letztlich auch: ein Tribunal. Eine Abkanzelung. Ein vorverlegtes jüngstes Gericht von erzengelhaftem Furor. Die da oben wissen alles besser und beten uns lauen Wohlstandsabonnenten unser Sünden- und Unterlassungstatregister vor: "Nie zuvor hatten Menschen derart viel Zeit, Reichtum und Luxus. Was macht ihr damit?"

Theatralisch ist das Ganze eine große Enttäuschung: belehrend, didaktisch, von oben herab

Ja, kann man da nur betreten denken, die haben ja recht. Was hast Du während des Völkermords an den Bosniern gemacht? Was hast Du dir bei Ruanda eingeredet? Gute Frage. Große Frage. Der Effekt: Ein schlechtes Gewissen stellt sich ein. Das ZPS-Theater wird zu dem, was Philipp Ruch einmal "moralische Hochdruckkammer" nannte. Eng ist es darin und durchaus beklemmend. Viel Luft zum Denken aber gibt es nicht. Musste man im Polittheater eines Bertolt Brecht noch Verfremdungseffekte deuten und selber Schlüsse - aus Figuren und Geschichten! - ziehen, kann man den humanistischen Agitprop des ZPS eigentlich nur mit Grummeln im Magen abnicken. Sich allenfalls hilflos fühlen. Oder sich ärgern, dass sie Jacken und Kleidung verächtlich ins Parkett schmeißen - wo wir die doch den Flüchtlingen an den Bahnhöfen gespendet haben. Es stellt sich kein Aha-Effekt ein, nur ein zermürbender Ach-ja-Effekt.

Ob das Unbehagen, dass dabei entsteht, als eine Qualität dem Abend anzurechnen ist oder eher daher rührt, dass man moralisch krass in Geiselhaft genommen wird, und zwar mit den schlichtesten Mitteln, muss jeder mit sich selbst ausmachen. Theatralisch jedenfalls ist der Abend eine große Enttäuschung: belehrend, didaktisch, von oben herab. Agitatorisches Mitmachtheater ohne Zünder. Eine rührige Dame aus Reihe zwei wird zu einem Eid auf den Humanismus gebeten, Leichenbilder flackern über die Bühne, über das Portal läuft ein digitaler Newsticker. Erst nach einer Stunde öffnet sich überhaupt der Blick aufs Bühnenbild, eine drehbares Sperrholzgebilde mit Treppenaufgang und Wänden zur Videofilmbespielung. Davor wird eine Fassbombe gebaut, Insignium für den "Zivilisationsbruch des 21. Jahrhunderts."

Toll, was Philipp Ruch dem Theater zutraut. Er schreibt, Theater sei wichtiger als die meisten anderen Kunstformen: "Theater kann Denken möglich machen . . . Es gibt keinen besseren sozialen Reflexionsraum als das Theater." Ja! Jetzt müsste er es nur noch besser einzusetzen verstehen.

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