Süddeutsche Zeitung

Politische Theorie:Von der Furcht zum Kampfgeist

Benötigt der Liberalismus stets einen Gegner, um sich seiner selbst wirklich sicher zu sein? Wer zum dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls zurückblickt, sollte Vereinfachungen und blinde Flecken vermeiden.

Von Jan-Werner Müller

Die Vergangenheit, die gerade erst hinter einem liegt, ist oft am schwersten zu verstehen. Diesen Herbst, zum dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls, wird uns wieder und wieder erzählt werden, nach dem Ende des Kalten Krieges habe der Liberalismus global triumphiert - doch seitdem sei "die Geschichte" zurückgekehrt. Der ach so naive, oder vielleicht einfach nur selbstgefällige Amerikaner Francis Fukuyama habe mit seiner These falsch gelegen, zu liberaler Demokratie und Kapitalismus gäbe es keine weltweit attraktive Alternative mehr. Diese Erzählung ist so stereotyp geworden, dass überhaupt nicht mehr gefragt wird, ob man in den langen Neunzigerjahren wirklich so hochgestimmt war. Was, wenn das Problem gar nicht ein stupider Triumphalismus war, dem Liberale (im weitesten Sinne) heute mit ein paar simplen selbstkritischen Gesten abschwören können?

Fukuyamas große Erzählung war nie so glatt gewesen, wie seine Kritiker meinten (wenn überhaupt, war das zu Glatte seine Zusammenfügung von Kapitalismus und Demokratie - ganz, als könne es da keine Spannungen geben). Fukuyama hatte im Übrigen nicht prophezeit, mit Kriegen oder auch nur gravierenden politischen Konflikten sei's ein für alle Mal vorbei - wer hätte das angesichts der Belagerung von Sarajevo oder des Völkermords in Ruanda auch für annähernd plausibel gehalten? Der frühere Mitarbeiter des State Departments argumentierte vielmehr, letztlich befriedigten allein die liberale Demokratie und "der Markt" das Verlangen der Menschen nach Anerkennung und Selbstbestimmung.

Die Befürchtung war, dass es den Leuten mit dem Liberalismus schlicht langweilig werden könne

Das war aber noch nicht das Ende der Geschichte (in Fukuyamas Buch). Denn der vermeintlich so oberflächliche Politikwissenschaftler stellte eine - nicht zuletzt von Nietzsche inspirierte - Befürchtung in den Raum: dass es den Leuten mit dem Liberalismus irgendwann schlicht langweilig werden könne. Wer den Sinn des Lebens in Heldentaten oder gar in blutigen Auseinandersetzungen suche, werde in einem postheroischen System kaum glücklich werden. Man musste einfach darauf hoffen, dass das Bedürfnis, etwas besonderes zu sein, auch im Kapitalismus gestillt werden könne (wohnt nicht jedem Start-up ein Zauber inne?) oder man seine Tapferkeit vielleicht bei humanitären Militäreinsätzen unter Beweis zu stellen vermöchte: Aus Helden alter kriegerischer Art sollten Händler (Amazon, Ebay etc.) oder Blauhelme werden.

Damit nicht genug an Befürchtungen für im weitesten Sinne liberale Denker: Das Ende des Zeitalters der Ideologien wurde durchaus als intellektuell-politische Identitätskrise empfunden, hatten sich Liberale doch während des Kalten Krieges in der Auseinandersetzung mit Kommunisten auch immer wieder ihrer eigenen Überzeugungen versichert. Der Gegner hatte ihrem Denken Gestalt gegeben.

Eine Reaktion auf diese Verunsicherung war der sogenannte "Liberalismus der Furcht", wie Judith Shklar ihn in einem 1989 publizierten Essay entworfen hatte. Shklar stammte aus Riga, war mit ihren Eltern vor Stalinisten und Nazis geflohen, studierte und lehrte in Harvard und wurde zu einer der einflussreichsten politischen Theoretikerinnen in der englischsprachigen Welt. Sie reagierte mit ihrer Spielart des Liberalismus auf die Tatsache, dass die größte Gefahr für das Individuum im 20. Jahrhundert von Staatsapparaten ausgegangen war. Sie erklärte, Liberale sollten keine positiven Visionen anbieten, sondern sich auf das Wichtigste konzentrieren: die Vermeidung von Grausamkeit. Letztere war in ihren Augen das Summum Malum, das Übelste überhaupt.

Dieser dezidiert antitotalitäre und primär negative Liberalismus wurde nach dem Ende des Kalten Krieges zu einem wichtigen Orientierungspunkt für Intellektuelle in Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Konkret bewegte er sie dazu, humanitäre Interventionen zu unterstützen. Die Lektion des 20. Jahrhunderts schien eindeutig: Man muss sich zuerst auf die Opfer konzentrieren - und potenziell können alle Opfer werden. Daraus folgten ein klares Bekenntnis zu den Menschenrechten und das seinerzeit populäre Schlagwort von einer internationalen "Responsibility to Protect". Der prominente liberale Intellektuelle Michael Ignatieff schrieb Ende der Neunzigerjahre, im 20. Jahrhundert basiere die Idee von menschlicher Universalität weniger auf Hoffnung denn auf Furcht, weniger auf Optimismus ob der menschlichen Fähigkeit, Gutes zu tun, denn auf dem Grauen vor der menschlichen Fähigkeit, Böses zu tun. Ein Jahrhundert des totalen Krieges, so Ignatieff seinerzeit, habe "Opfer aus uns allen gemacht, Zivilisten wie Militärs, Männern, Frauen und Kindern."

Doch so gerechtfertigt beispielsweise das Eingreifen im ehemaligen Jugoslawien war, verbarg sich in dem Liberalismus, der Interventionen legitimierte, auch ein entpolitisierendes Moment: Man nahm an, dass das Handeln zur Rettung von Individuen sich praktisch von selbst verstand. Mit dieser Beobachtung soll nicht das Summum Malum, das beispielsweise die Anführer der bosnischen Serben verfolgten, relativiert werden; es soll aber gesagt sein, dass der Liberalismus der Furcht - wie er seinerzeit verstanden wurde - unter den neuen weltpolitischen Umständen auch eine besondere Art von Sicherheit versprach: nämlich Selbstsicherheit für Liberale. Im Kalten Krieg hatte man gewusst, wo der ideologische Gegner stand; nun wusste man, weil die Grausamkeit so sichtbar war, immer gleich, was es im Namen der Menschenrechte zu tun galt. Potenziell verdrängte eine neue "Opferkultur" (so Bernhard Schlink kritisch) empirisch-kausale Fragen nach dem, was aus normativer Sicht nicht immer sofort klar war.

Diese Suche nach normativer Eindeutigkeit fand nach der Jahrtausendwende noch einen weiteren scheinbar nicht zu hinterfragenden Fixpunkt: den von der US-Regierung ausgerufenen "globalen Krieg gegen den Terror". Angesichts eines vermeintlichen "vierten Totalitarismus" - nämlich des radikalen politischen Islamismus - wurde die Forderung laut, man brauche wieder einen kämpferischen Glauben, einen neuen fighting faith (ein unter amerikanischen Liberalen des Kalten Krieges populärer Ausdruck), um Muslime von der liberalen Demokratie zu überzeugen.

Ein weniger offensichtlicher Effekt des "Kriegs gegen den Terror" bestand darin, dass Politik wieder Sinn oder zumindest Spannung versprach. Das klingt frivol, aber anders lassen sich einige der Reaktionen prominenter Intellektueller zu Beginn dieses "Krieges" kaum deuten. Der liberale Journalist Christopher Hitchens beschrieb sein "Hochgefühl" im Kampf gegen den "furchterregendsten Feind", nämlich den "theokratischen Barbarismus" - ja, er jubilierte gar: "Sollte der Kampf auch bis zum letzten Tag meines Lebens dauern, so würde es mir dabei, ihn bis zum Äußersten zu führen, doch nie langweilig werden." Auf merkwürdige Weise trafen sich hier Liberale mit Intellektuellen, die es sich wohl verbitten würden, liberal genannt zu werden. Man denke nur an die seinerzeit viel diskutierten starken Ansagen eines Botho Strauß, der in den Neunzigerjahren verkündet hatte: "Wir haben sie hinter uns. Es war eine schwache Zeit".

Zeiten, die liberal, tolerant und entspannt scheinen, sind offenbar Zeiten für Selbstzweifel

Zumindest Liberale, die sich mit dem neuen fighting faith identifizierten, nahmen offenbar an, der Liberalismus benötige stets einen Gegner, um sich seiner selbst wirklich sicher zu sein; "schwache" Zeiten, die doch eigentlich liberal im Sinne von tolerant und entspannt scheinen, sind offenbar Zeiten für Selbstzweifel. Positiv gewendet könnte man sagen, der Liberalismus passe sich flexibel neuen Herausforderungen an. Die offensichtlichste Kritik lautet dagegen, stets auf Feinde fixierte Liberale hätten wenig Vertrauen in die intrinsische Attraktivität ihrer Ideen, und im ständigen Ringen mit dem Gegner verrieten sie diese Überzeugungen bisweilen selbst.

Dies war denn auch ein entscheidendes Argument für diejenigen, die dem Antitotalitarismus nach der Jahrtausendwende skeptisch gegenüberstanden. Es war ja offensichtlich per definitionem richtig, dass der islamistisch inspirierte Terror Furcht verbreitete und Menschen grausam behandelte. Aber die neuen Antitotalitären, so die Kritiker, trügen ihrerseits zu einer furchterfüllten Atmosphäre vor allem in den USA bei, und legitimierten de facto autoritäre Maßnahmen der Regierung von George W. Bush (der liberale Intellektuelle Peter Beinart publizierte 2004 ein Buch mit dem vielsagenden Untertitel "Why Liberals - and Only Liberals - Can Win the War on Terror and Make America Great Again"). Zudem - das war weniger offensichtlich - senkten sie die Erwartungen an Politik systematisch ab: Es gelte stets, nur das offensichtlich Schlimmste zu verhindern, für weitergehende, auch strukturelle Fragen beispielsweise nach sozialer Gerechtigkeit blieb da zu wenig Zeit und politische Aufmerksamkeit.

So ist denn die Lektion der langen Neunziger wohl kaum die banale Einsicht, dass man sich nicht darauf verlassen könne, der Lauf der Geschichte werde es schon richten - das hat auch schon damals niemand geglaubt. Die Lektion ist auch nicht, dass Nation und Gemeinschaft irgendwie wichtig sind - auch ein Fukuyama wollte diese nicht abschaffen. Nein, die Sache ist subtiler: Ein Liberalismus, der sich nur an Gegnern in der unmittelbaren Gegenwart abarbeitet und um der normativen Eindeutigkeit willen keine größeren strukturellen Herausforderungen sieht, verengt seine Perspektive ungebührlich - und produziert blinde Flecken. Dies sollte gerade angesichts der heutigen Auseinandersetzung zwischen autoritären Rechtspopulisten und Liberalen zu denken geben.

Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte in Princeton.

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SZ vom 27.08.2019
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