Politische Rhetorik:Der Begriff "Extremismus" wird als Etikett missbraucht

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Protestmarsch in München, Mai 1968: Was lange als radikal galt, wurde nach 1974 als extremistisch klassifiziert. (Foto: Friedrich Rauch/Interfoto)

Was früher "radikal" war, heißt heute "extremistisch". Dabei findet selbst der Verfassungsschutz, dass zum Beispiel radikale Kapitalismuskritiker keine Extremisten sind.

Gastbeitrag von Wolfgang Kraushaar

Apropos G 20. Was sich neulich in Hamburg abgespielt hat, war im Kern durchweg vorhersehbar. Und das in doppelter Hinsicht. Zum einen im Hinblick auf die gewaltsamen Ausschreitungen und zum anderen hinsichtlich der Reaktionen darauf - seitens der Politik, der Medien und großer Teile der Öffentlichkeit insgesamt.

Auf einen Kardinalfehler, ein schon allein wegen der Anwesenheit von Trump, Putin und Erdoğan als monströs zu bezeichnendes Gipfeltreffen passenderweise der linksautonomen Szene direkt vor die Haustür zu legen, versucht man nun ganz nach dem Motto "Haltet den Dieb" mit einem anderen, der Tendenz zu einer Extremistenhatz, zu antworten.

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Die Schuldigen sollen identifiziert, etikettiert und katalogisiert werden, nach Möglichkeit in einer europaweiten Datei des Linksextremismus. Eine solche Reaktion wirkt nachvollziehbar, schließlich sollen verdächtige Gewalttäter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Doch ist dies überhaupt ein angemessener Ansatz oder versteckt sich darin nicht nur der nächste Kardinalfehler?

Warum diese Frage aufgeworfen werden muss, hängt schlicht und einfach mit einem normativen Konzept zusammen, das von staatlicher Seite unisono verfochten wird, aber nach wie vor wegen seiner theoretischen Unterkomplexität und seiner empirischen Schwächen von geringer wissenschaftlicher Reputation ist: dem des Extremismus.

Wer von Radikalismus spricht, macht sich verfassungsfeindlicher Positionen verdächtig

Dessen Grundverständnis ist ebenso simpel wie oberflächlich. Unter der Annahme, dass es eine verfassungsbejahende politische Mitte gebe, würden Positionen - je mehr sie sich davon entfernten und an den jeweiligen Rändern manifestierten - in eine Gegnerschaft zum Grundgesetz umschlagen.

Das gelte für die "extreme Rechte" ebenso wie für die "extreme Linke" und auch für einen religiösen Extremismus wie er auf furchterregende Weise unter islamischen Vorzeichen Gestalt angenommen hat.

Diese Auffassung war in den Institutionen und Behörden jedoch nicht von Anfang an maßgeblich. Stattdessen gab es eine, die seit der Gründung der Bundesrepublik über viele Jahre hinweg die Grundlage für die Definition verfassungsfeindlicher Positionen gebildet hat: die Rede ist vom Radikalismus.

Tabuisiert, weil verdachterregend

Inzwischen ist es eine Seltenheit geworden, über diesen mittlerweile als anrüchig geltenden Begriff öffentlich nachzudenken. Seine Verwendung hat im Lauf der vergangenen Jahrzehnte eine nachhaltige Abwertung erfahren.

Diese hat schließlich so weit geführt, dass der Terminus als mehr oder weniger tabuisiert gilt. Wer von "radikal", "Radikalität" oder "Radikalismus" schreibt oder spricht, der macht sich zugleich verdächtig, ideologische Konterware im Gepäck und somit politisch Anstößiges im Schilde zu führen.

Durchgesetzt hat sich stattdessen der mit ihm konkurrierende Extremismusbegriff, der die staatliche und politische Legitimationsfähigkeit so weit aufgesogen hat, dass er unangefochten das Feld beherrscht.

Wer von Extremismus spricht, ist auf der sicheren Seite

Wer von Radikalismus spricht, läuft oftmals Gefahr, sich als insgeheimer Exponent verfassungsfeindlicher Positionen verdächtig zu machen. Wer sich dagegen in gesellschaftspolitischer Hinsicht auf den Extremismus als Kategorie beruft, scheint a priori auf der sicheren Seite zu stehen. Angesichts dieses Missverhältnisses ist es angebracht ein paar Vorüberlegungen zur Terminologie und ihrer Semantik ins Feld zu führen.

Der in einem politischen Sinn verwendete Begriff Extremismus hat keine besonders lange Tradition, er ist vergleichsweise jüngeren Datums. Er taucht Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst in der englischen Tagespresse auf, kann sich aber, obwohl er in der 1844 erschienenen Vier-Parteien-Lehre Friedrich Rohmers von der Sache her bereits eine zentrale Rolle spielt, im deutschen Sprachraum zunächst nicht etablieren.

Während in Frankreich das Wort "extrémisme" im Anschluss an die Oktoberrevolution als Warnsignal vor den die bürgerliche Gesellschaft bedrohenden politischen Gefahren Konjunktur hat, spielt es in der Weimarer Republik so gut wie keine Rolle. Erst vermittelt über die Arbeiten deutscher Emigranten, die den Begriff "extremism" von der angelsächsischen Soziologie und Politikwissenschaft übernommen haben, findet er in der Nachkriegszeit auch hierzulande Eingang in die politische Sprache.

Extremismus wird als Gegenbegriff zur liberalen Demokratie benutzt und kennzeichnet, ohne auf bestimmte Werte oder Inhalte festgelegt zu werden, die Gegnerschaft zum Rechtsstaat und seiner Verfassung.

Von Anfang an steht der Begriff Extremismus dabei in Konkurrenz zu dem des Radikalismus, der über eine längere und vieldeutigere Geschichte verfügt. Während sich dieser im 19. Jahrhundert einen festen Platz im politischen Vokabular zu erobern vermochte und über die Charakterisierung von liberalen, sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Kräften hinweg mit einer großen Spannbreite an politischen Positionen identifiziert werden konnte, erschien der Extremismusbegriff als inhaltsarm, semantisch unterdeterminiert und bloß schematisierend.

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Es brauchte eine ganze Zeit, bevor er sich in der Bundesrepublik schließlich als Synonym- oder Konkurrenzbegriff zu etablieren vermochte. Anfangs war, was an den vom Bundesverfassungsgericht 1952 gegen die Sozialistische Reichspartei (SRP) und 1956 gegen die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) ausgesprochenen Parteienverboten abzulesen ist, noch fast ausschließlich von Rechts- und Linksradikalismus die Rede.

Erst durch die innenpolitischen Richtungskonflikte zur Zeit der ersten großen Koalition (1966-1969) wurden die tradierten Etikettierungen oppositioneller Strömungen so sehr infrage gestellt, dass verschiedene Wissenschaftler, Politiker und Vertreter von Staatsorganen begannen, dem Extremismusbegriff den Vorzug zu geben.

Der Wunsch nach einer möglichst eindeutigen kategorialen Differenz

Dass dies geschah, war nicht zuletzt ein Reflex auf die ostentative Inanspruchnahme des Radikalismusbegriffs durch zahlreiche Gruppen der APO, insbesondere den marxistisch geprägten Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Um eine Gesellschaft in ihrer Struktur verändern zu können, lautete das Credo, müsse man an ihren Wurzeln ansetzen. Alles andere sei Oberflächenkosmetik und laufe auf eine Form von Flickschusterei hinaus.

Die dem Staat gegenüber befürwortend eingestellten Kräfte glaubten demgegenüber, eine möglichst eindeutige kategoriale Differenz zu benötigen, um jene Strömungen brandmarken zu können, die sie mit ihren basisdemokratischen Ansprüchen als gegen die parlamentarische Demokratie und damit die Verfassungsordnung gerichtet ansahen.

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Indem sie auf diese Weise einem inhaltsleeren Begriff politischer Ordnung den Vorzug gegenüber einem historisch gesättigten Positionsbegriff gaben, wichen sie zugleich einer Auseinandersetzung mit dem Radikalismusbegriff aus, der ja als Attribut jener politischen Strömungen verwendet wurde, die von sich beanspruchten, bis an die Wurzeln der Gesellschaftsprobleme vorzustoßen.

"Extremistisch" wird wie eine quasianthropologische Eigenschaft behandelt

Wie ein negatives Echo von 1968 wurde dann der Extremismusbegriff von konservativen und liberalen Politikwissenschaftlern normativ aufgeladen und begann sich in der Sprache des Bundesinnenministeriums, der Staatsschutzorgane, der Bundesparteien, der politischen Bildung und der Öffentlichkeit, zunächst ihren eher staatstragenden Teilen, später ganz allgemein durchzusetzen.

Das drückt sich auch in dem vom Bundesinnenministerium herausgegebenen Verfassungsschutzbericht aus, der 1974 antidemokratische Organisationen und Bewegungen zum ersten Mal nicht mehr als "radikal", sondern als "extremistisch" eingestuft hat. Extremismus ist auf diese Weise als ein Begriff entsubstantialisierter politischer Positionalität zu einer Schlüsselkategorie im politischen System der Bundesrepublik geworden.

Organisationen, die das Etikett "extremistisch" angeheftet bekommen, verlieren ihre Förderungswürdigkeit und laufen Gefahr, durch das Bundesinnenministerium, die Innenministerien der Länder oder durch das Bundesverfassungsgericht verboten zu werden.

Die Arbeit der Verfassungsschutzämter ist schematisch nach der Unterteilung Rechts- und Linksextremismus organisiert worden. Und die Parteien der Mitte - wie an den jeweiligen Verfassungsschutzberichten abgelesen werden kann - werden offenbar a priori von jeglichem Extremismusverdacht freigesprochen. Sie tauchen, auch wenn sie vielleicht hin und wieder ebenfalls zu Bedenken Anlass gegeben haben könnten, dort einfach nicht auf.

Angesichts dieser Konstellation hat der Politikwissenschaftler Hans-Gerd Jaschke schon kurz nach der deutschen Einigung das in der Öffentlichkeit und in der politischen Bildung zirkulierende Extremismusbild wegen seiner fragwürdigen Abstraktheit kritisiert.

Es sei nicht das Resultat konkreter Analysen, sondern "mechanistisch aus der verfassungsrechtlichen Perspektive" abgeleitet. Entscheidende Dimensionen der politisch-sozialen Realität würden dabei ausgeblendet. "Extremistisch" werde bei konventionellen Ansätzen als ein Etikett verwendet und "wie eine quasianthropologische Eigenschaft" behandelt. Die klassifikatorischen Züge überwögen deutlich die deskriptiven und analytischen.

Wie kann nun eine Verwendung des Radikalismusbegriffs aussehen, ohne zugleich den unterstellten ideologischen Gefährdungen auf den Leim zu gehen? Im Unterschied zu einer Favorisierung oder gar Privilegierung des Extremismusbegriffs sollten die Gefahrenpotenziale polarisierender Positionen erst durch eine Überprüfung ihrer vermeintlichen Radikalität angemessen herausgearbeitet werden.

Nur der Radikalismusbegriff - so die Hypothese - gestattet es, eine differenzierte Analyse der sozialen, politischen und weltanschaulich-ideologischen Aspekte vornehmen zu können.

Weil er im Unterschied zum statischen Extremismusbegriff eine dynamische Signatur besitzt, ist er auch dazu in der Lage, die Genese einer politischen Position begreifbar zu machen. Nicht ohne Grund spricht kein Mensch von "Extremisierung", wenn er die Entwicklung zu einer "extremen Position" beschreiben will, sondern selbstredend von einer "Radikalisierung".

Während es dem Begriff des Extremismus auf eine Festlegung bestimmter Positionen im Raume, also eine Topografie, ankommt, geht es dem Begriff des Radikalismus um eine logische Ordnung, genauer um eine Topologie.

"Kapitalismuskritiker sind noch keine Extremisten"

Interessanterweise hat das schon allein wegen seiner Verfehlungen im NSU-Komplex zu Recht in die Kritik geratene Bundesamt für Verfassungsschutz seine Einstellung mittlerweile modifiziert. Es unterscheidet beide Termini zwar nach wie vor strikt voneinander, allerdings ohne den Begriff Radikalismus als grundsätzlich verfassungswidrig anzuprangern. Auf ihrer Website heißt es dazu:

"Als extremistisch werden die Bestrebungen bezeichnet, die gegen den Kernbestand unserer Verfassung - die freiheitliche demokratische Grundordnung - gerichtet sind. Über den Begriff des Extremismus besteht oft Unklarheit. Zu Unrecht wird er häufig mit Radikalismus gleichgesetzt. So sind zum Beispiel Kapitalismuskritiker, die grundsätzliche Zweifel an der Struktur unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung äußern und sie von Grund auf verändern wollen, noch keine Extremisten. Radikale politische Auffassungen haben in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz. Auch wer seine radikalen Zielvorstellungen realisieren will, muss nicht befürchten, dass er vom Verfassungsschutz beobachtet wird; jedenfalls nicht, solange er die Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung anerkennt."

Radikalität wird sogar von einer Bundesbehörde wie dem Verfassungsschutz toleriert

Ob Letzteres zutrifft, mag bezweifelt werden. Bemerkenswert ist gleichwohl die hier 2003 erstmals geäußerte und unverändert aufrecht erhaltene Grundposition. Radikalität wird - solange diese sich nicht gegen das Grundgesetz richtet und in Gewaltanwendung umschlägt - selbst von einer Bundesbehörde wie dem Verfassungsschutz durchaus toleriert.

Angesichts dieser Klarstellung sollte auch der im Anschluss an das G-20-Treffen in Hamburg ausgebrochene Streit um die innere Sicherheit im Allgemeinen und den Linksextremismus im Besonderen anders zu betrachten sein. Die Tatsache allein jedenfalls, dass jemand wegen der in mancher Hinsicht desaströsen Folgen einer neoliberalen Globalisierung meint, den Kapitalismus grundlegend kritisieren zu müssen, stellt diesen nicht außerhalb der parlamentarischen Demokratie.

Im Gegenteil, solange sich die Probleme der Wirtschafts- und Finanzpolitik weiter radikalisieren, wie das seit Thatchers und Reagans Amtszeit der Fall gewesen ist, solange bedarf es auch eines Denkens, das bereit ist, sich an die marktradikalen Wurzeln dieser Gefährdungspotenziale heranzuwagen.

Der Autor ist Politikwissenschaftler an der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Im August erscheint sein Buch "Die blinden Flecken der RAF" bei Klett-Cotta.

© SZ vom 01.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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