Süddeutsche Zeitung

Politische Ideengeschichte:Die Einsicht, nicht länger mitzumachen

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In Reportagen porträtiert Marko Martin europäische Dissidenten des 20. Jahrhunderts. Seine "Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters" sind ein großes Buchdenkmal für Mutige, Unangepasste.

Von Ilko-Sascha Kowalczuk

Das zwanzigste Jahrhundert war vom Kampf zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen Freiheit und Unfreiheit geprägt. "1989" stand einige Jahre als Chiffre für die zuversichtliche Annahme, dieser Kampf sei entschieden zugunsten von Demokratie und Freiheit. Immer mehr Staaten schlugen sich auf die freiheitlich-demokratische Seite der Welt. Dieser Trend ist längst gestoppt. Auch wenn der polnische Widerstandsaktivist Dawid Warszawski lakonisch meinte, wer das Jahr 1989 erlebt habe, besitze nicht das moralische Recht, Pessimist zu sein, hat sich Pessimismus längst auch unter jenen breitgemacht, die 1989 zu den Akteuren zählten, die eine als unerschütterlich gehaltene Diktatur im Osten abschüttelten. In diesen Zeiten, da Demokratie und Freiheit weltweit als fragil und bedroht gelten, ist ein Rückblick auf jene, die in der Unfreiheit für Freiheit mit dem Wort, also der Tat eintraten, umso erbaulicher für unsere mögliche Zukunft.

"Dissidentisches Denken", wie Marko Martin sein beeindruckendes, bedrückendes und beglückendes Buch nennt, ist die bewusste Abweichung vom herrschenden Dogma. Dissidenz ist kein Lebens- oder gar Lustprinzip, sondern die in der Not geborene Einsicht, nicht mehr mitzumachen, die Humanität auch dort zu verteidigen, wo Stacheldraht, Bajonette und Karabiner die Regierenden stützen und schützen. Dissidenten stellen etwas Besonderes dar, weil sie der menschlichen Norm als Abweichung von der Normalität ihrer Gegenwart zur Geltung verhelfen wollen. Sie weichen von der herrschenden Linie ab, weil sie die Herrschenden als Abweichler von der Humanität kennzeichnen und ihnen nicht durchgehen lassen wollen, woran sich die Mehrheit unter Druck angepasst hat.

Marko Martin reiste im Mai 1989 aus der DDR, gerade neunzehnjährig, aus. Er flüchtete aus der verhassten Diktatur, suchte die Freiheit und ließ sich seither von vollen Schaufenstern und Hochglanzkatalogen jenes Systems, das Freiheit institutionell zu schützen sucht, auch nicht beirren: Freiheit ist ein Lebensprojekt, kein Ding, das sich, hat man es einmal, irgendwie festhalten ließe. Sie ist immer und überall bedroht und muss daher immer und überall verteidigt werden, individuell wie gesellschaftlich. Der junge Mann studierte Geschichte, Politik und Germanistik, um besser zu begreifen, worum es geht in Sachen Freiheit. Und er lernte Sprache um Sprache, um vor Ort genau verstehen, um genau hinhören zu können. Martin schrieb Romane, Essays, Erzählungen, Reportagen, wissenschaftliche Studien.

In all seinen Büchern und Aufsätzen wird immer wieder deutlich, wie sehr er sich bewusst ist, auf den Schultern anderer zu stehen, zu hocken, zu springen. Diese Bescheidenheit macht seine Bücher groß. Marko Martin ist eigentlich nicht bescheiden, ihm geht es immer ums Ganze. Freiheit ist kein Verhandlungsgegenstand, nichts, was man abwägen, nichts was man teilen könnte, nichts, was sich bescheiden teilen ließe.

Sein neuestes Buch "Dissidentisches Denken" trägt dem Rechnung. Es steht thematisch in einer Reihe mit Meisterwerken wie Karl Raimund Poppers "Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde" (1945), André Glucksmanns "Die Meisterdenker" (1977), Ralf Dahrendorfs "Versuchungen der Unfreiheit" (2006) oder Tony Judts "Das vergessene 20. Jahrhundert" (2010). Es geht um Intellektuelle, die Sein und Bewusstsein gleichermaßen prägten. Die einen, wie bei Popper und Glucksmann, als Vordenker des Totalitären, die anderen, wie bei Dahrendorf, Judt oder nun eben auch Martin, als Kämpfer gegen das Totalitäre, das Unfreie.

Der Untertitel von Martins Buch "Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters" ist wörtlich zu nehmen. In 22 biografischen Reportagen stellt Martin 23 europäische Dissidenten vor. Niemand starb in dem Land, in dem der Geburtsort lag. Sie alle waren Exilierte, außer Landes gezwungene, Abweichler, Verfolgte, aber keine Unterdrückten, weil sie Kraft und Mut besaßen. Sie konnten davon künden, was geschah, weil sie das Glück hatten, zu überleben.

Marko Martin reist viel und so reist er nicht nur zu den Büchern, sondern oft auch zu ihren Autoren. Er macht sich auf den Weg zu Berühmtheiten wie Manès Sperber, Arthur Koestler oder Czesław Miłosz, von denen er nur noch Werk und Wirkung nachspüren konnte, weil sie bereits verstorben waren. Die Auswahl seiner Porträts aber ist maßgeblich davon geprägt, wen Martin persönlich traf. Der Jüngste unter ihnen war der 1999 in Berlin verstorbene, nicht einmal fünfzig Jahre alt gewordene Jürgen Fuchs. Die älteste war Mariana Frenk-Westheim, die im Jahr 2004 fast 106-jährig in Mexiko-Stadt verstarb.

Die Liste der Abweichler und Verfolgten ist beeindruckend. Und sie ergibt sich fast wie von selbst. Hans Sahl, einer der Gesprächspartner Martins, steht dafür exemplarisch. Verfolgt und von den Nationalsozialisten ins Exil gezwungen, bleibt er auch dort am Rande stehend, bleibt auch im Exil ein Abweichler von der Exilnorm etwa eines Bertolt Brecht. Das eigene Schicksal wird zur Blaupause einer Wahrnehmung, die immer die anderen Dissidenten, die anderen Verfemten, die anderen am Rand stehenden Zentralfiguren kenntlich macht. So kommen von jedem Besuch viele neue Impulse für weitere, es spinnt sich ein Netz, ein Netzwerk, das so nie existierte, aber wirkmächtig war und noch immer ist. Nicht zuletzt durch dieses Buch.

Die Essays stehen nicht zufällig nebeneinander, sondern ergeben sich auseinander. Marko Martins Reise zu den Autoren, Widerständlern, Humanisten ist eine Reise in das Europa des 20. Jahrhunderts, dorthin, wo es um Sein oder Nichtsein, um Leben und Tod, um Freiheit und Unfreiheit geht. Allen ist als aufgezwungene Lebensfrage gemeinsam, Freiheit in der Unfreiheit, Demokratie in der Diktatur behaupten zu müssen, ja, und hier beginnt der Unterschied zu vielen anderen, auch behaupten zu wollen. Uns treten in Martins Miniaturen keine Helden gegenüber, nur Menschen, aber nicht Menschen von Nebenan, sondern von Gegenüber. Sie stehen dort exemplarisch, auch für jene beispielhaft, die bei Marko Martin nicht mit einem eigenen Porträt bedacht werden, obwohl sie im Buch dauerpräsent sind: Wolf Biermann, Václav Havel, Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam, Joseph Brodsky, Gustaw Herling, Adam Michnik, Leszek Kołakowski oder Karl Raimund Popper.

Die Wucht des Buches liegt in seiner Schnörkellosigkeit: Martins "Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters" kreisen immer und immer wieder um die Frage, wie wir als Einzelne den Zumutungen und Anmaßungen der Unfreiheit entfliehen, wie wir uns wehren, wie wir uns selbst behaupten können. Es ist ein ewiger Kampf gegen die Macht und gegen die Macht des Vergessens. Nur wer sich erinnert, so Martins Credo, hat eine Chance, nicht zu unterliegen.

Die Mächtigen, zumal die gegen Freiheit Ankämpfenden, ziehen immer und sofort gegen das Gedächtnis, gegen die Erinnerung zu Felde. Das Buch über dissidentisches Denken und Leben zeugt davon, wie lohnend der Kampf gegen das Vergessen ist. Freya Klier - auch sie ist in diesem Buch dauernd präsent - verteidigt schon seit Jahrzehnten das elfte Gebot: Du sollst Dich erinnern!

Wenn wir heute in die Welt schauen, sehen wir in Nord wie Süd, Ost wie West vor allem Geschichtsvergessenheit. Nicht aus Trauer, Scham oder Achtlosigkeit, nein, bewusste Versessenheit für allgemeine Vergessenheit. Nur so lässt sich das Zurückdrehen, das Zurückgehen, das Zurückweichen vor dem, was wir Freiheit nennen, erreichen. Und Tag für Tag lässt sich beobachten, wie erfolgreich die Geschichtsvergessenen sind.

Da hilft ein Buchdenkmal wie dieses. Die Männer und Frauen, die Dissidenten, die Abweichler verteidigten unsere Freiheit in ihrer Unfreiheit. Sie überlebten als Ausnahmen, während die meisten ihrer Mitkämpfenden nicht überlebten. Sie vor dem Vergessen zu bewahren, so wie es Marko Martin glanzvoll tut, ist ein großer Schritt, um Freiheit zu verteidigen. Wer dieses Buch gelesen und verstanden hat, der hat kein moralisches Recht mehr, pessimistisch zu sein.

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Quelle:
SZ vom 29.10.2019
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