Süddeutsche Zeitung

Politische Geschichte:Was ist Antisemitismus?

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Die jüngere Geschichte dieses Begriffs ist bewegt - und durchaus widersprüchlich. Wann etwa wird Israelkritik zu Israelfeindschaft? Die Rolle der Bundesregierung in der Formulierung einer Definition wirft dabei einige Fragen auf.

Von JOSEPH CROITORU

Wie Antisemitismus definiert werden soll, ist auch nach Meinung der Experten letztlich Ansichtssache. Hierzulande werden seit einigen Jahren immer wieder Antisemitismus-Vorwürfe erhoben - zuletzt gegen den Kameruner Philosophen Achille Mbembe -, die sich auf die sogenannte Arbeitsdefinition Antisemitismus stützen

Doch wie ist diese zustande gekommen und wie fand sie den Weg nach Deutschland? Die erste Version der Arbeitsdefinition wurde in den Jahren 2004 und 2005 für die "Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" (EUMC) erarbeitet und macht auch den israelbezogenen Antisemitismus zum Thema. Federführend bei der Formulierung war der amerikanisch-jüdische Rechtsanwalt und damalige Antisemitismus-Experte des "American Jewish Committee" Kenneth Stern, dem überwiegend jüdische Fachleute zur Seite standen, darunter auch vom Berliner Ableger des American Jewish Committee. Zwar hatte die EUMC ihre Arbeitsdefinition auf Englisch im Internet veröffentlicht, sie kam aber nur sporadisch zur Anwendung. Die EUMC wurde 2007 aufgelöst und ihre Nachfolgerin, die "Agentur der Europäischen Union für Grundrechte", löschte 2013 die Definition von ihrer Website. Damit war sie in Europa erst mal vom Tisch.

In den USA hingegen versuchten pro-israelische jüdische Kräfte an amerikanischen Universitäten mit Hilfe der Arbeitsdefinition israelkritische und pro-palästinensische Äußerungen als antisemitisch zu brandmarken und auch mit juristischen Mitteln zu verbieten. Seitdem ist der Konflikt eskaliert. Kenneth Stern, der das AJC 2014 verließ und heute das "Bard Zentrum für Hass-Studien" im Bundesstaat New York leitet, gehörte von Beginn an zu den schärfsten Kritikern dieser Instrumentalisierungsversuche der Arbeitsdefinition. Auch in seinem Buch "The Conflict over the Conflict: The Israel/Palestine Campus Debate" (New Jewish Press, Toronto) erinnert er daran, dass die EUMC-Arbeitsdefinition nicht dafür gedacht war, Personen öffentlich als "antisemitisch" abzustempeln. Vielmehr sollte sie Behörden, die bis dahin nicht über eine einheitliche Antisemitismus-Definition verfügten, ein Hilfsmittel für die Erfassung antisemitischer Straftaten an die Hand geben.

In Europa bemühte sich nach 2005 von Berlin aus besonders auch der dortige Ableger des American Jewish Committee um die Verbreitung der Arbeitsdefinition. Das von ihm 2008 gegründete "European Forum on Antisemitism" ließ die EUMC-Definition in 32 Sprachen übersetzen, auch ins Deutsche, und stellte sie ins Internet. Einleitend hieß es dazu, das Dokument solle "als praktischer Leitfaden für die Erkennung und Dokumentation antisemitischer Vorfälle sowie für die Erarbeitung und Umsetzung gesetzgeberischer Maßnahmen gegen den Antisemitismus dienen". Dann wurde der Begriff in zwei Sätzen erläutert: "Der Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen."

"Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden", lautet eine Definition

An diese Aussage - nennen wir sie "Kerndefinition" - schloss sich ein Abschnitt mit Beispielen zu möglichen Erscheinungsformen des Judenhasses an. Eingeleitet wurde er mit dem Hinweis: "Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein." Im englischen Original hieß dieser Satz: "In addition, such manifestations could also target the state of Israel, conceived as a Jewish collectivity". In der AJC-Übersetzung verwandelten sich die neutral aufgefassten "manifestations" in "Angriffe".

Die "International Holocaust Remembrance Alliance" (IHRA), der neben 33 Ländern auch Deutschland angehört, hatte die EUMC-Fassung 2016 mit einigen Änderungen übernommen, legte aber 2018 ihre eigene Arbeitsdefinition auch auf Deutsch vor - und distanzierte sich darin von der AJC-Übersetzung. Hier wird korrekt von "Erscheinungsformen" ("manifestations") von Antisemitismus gesprochen, die sich auch gegen den Staat Israel richten können. Im Übrigen folgt bei der IHRA die Anmerkung: "Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden."

Die Bundesregierung schloss sich am 20. September 2017 der IHRA-Definition "in erweiterter Form" an, wie auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes zu lesen ist. Sie wird seitdem als "IHRA-Definition" präsentiert. Sie umfasst die Kerndefinition und den israelbezogenen Satz mit den "Angriffen" - nur stammt letzterer bekanntlich nicht von der IHRA, sondern ist der deutschen Übersetzung entnommen, die das AJC Berlin seinerzeit von der ursprünglichen EUMC-Definition hatte anfertigen lassen. Handelt es sich also um einen Zitierfehler oder um Manipulation? Zumal bei der IHRA nach der Kerndefinition ein überleitender Satz folgt, der diese von den nachfolgenden erläuternden Beispielen klar trennt und der in der Version der Bundesregierung weggefallen ist: "Um die IHRA bei ihrer Arbeit zu leiten, können die folgenden Beispiele zur Veranschaulichung dienen." Man vermisst hier auch die einschränkende Bemerkung der IHRA zur Kritik an Israel, die von ihr als nicht antisemitisch eingestuft wird, wenn sie mit Kritik an anderen Ländern vergleichbar ist.

Die Bundesregierung hat eine Definition zusammenmontiert - mit weitreichenden Folgen

Die von der Bundesregierung als "IHRA-Definition" deklarierte Textmontage hat seit 2017 im hiesigen politischen und öffentlichen Diskurs über Antisemitismus ein bemerkenswertes Eigenleben entfaltet. Sie begegnet, um nur die markantesten Beispiele zu nennen, in gleicher oder nahezu identischer Form - stets mit Quellenverweis auf die IHRA - 2018 etwa in den Beschlüssen des Bundestags "Antisemitismus entschlossen bekämpfen" und zur Boykott-Bewegung BDS im Mai 2019. Auch in der "Münchner Erklärung gegen jede Form von Antisemitismus" der CSU vom Oktober 2019 taucht das montierte Zitat auf. Und Anfang Februar dieses Jahres führte es Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, in seinem Vortrag auf dem Neujahrsempfang des Wirtschaftsclubs Rhein-Main an.

Das Auswärtige Amt nahm auf Anfrage der SZ zur Unstimmigkeit in der von der Bundesregierung beschlossenen "IHRA-Definition" in "erweiterter Form" keine Stellung. Und auf die Frage, ob die Bundesregierung die vollständige IHRA-Definition (Kerndefinition inklusive Beispielen) übernommen habe, lautete die Antwort: Die Beispiele, die bereits vielfach Verwendung fänden, seien "integraler Bestandteil bei der Implementierung, auch wenn sie - außer dem einleitenden ersten Satz, der sich auf Israel bezieht - formell nicht Teil des Kabinettsbeschlusses vom 20. September 2017 sind".

Damit wird indirekt bestätigt, dass das Kabinett nicht nur die politische Indossierung eines unrichtigerweise als "IHRA-Definition" - wenn auch als "erweiterte" - präsentierten Textes beschlossen hat. Auch scheinen die "Beispiele" implementiert worden zu sein, ohne dass dies durch den Kabinettsbeschluss gedeckt war. Zu den "Beispielen" zählt bekanntlich auch der umstrittene, sich auf Kritik an Israel beziehende "3-D-Test" (Dämonisierung, Delegitimierung, Doppelstandards), der gerne auch von staatlicher Seite gegen "Israel-Kritiker" ins Feld geführt wird. So auch im Fall Achille Mbembe.

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Quelle:
SZ vom 21.07.2020
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