Politik in der Krise:Die Rückkehr der Wut

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Die Enttäuschten und Beleidigten: Wenn Wut die Politik beherrscht, können auch andere Gespenster zu unbeherrschbaren Bedrohungen werden. Was einen Zerfall des Parteiensystems so gefährlich macht.

Gustav Seibt

Fast gleichzeitig betreten zwei Gespenster die Bühne der deutschen Demokratie, die ihre Bürger an üble Erfahrungen der Vergangenheit erinnern müssen. Die Inflation ist wieder da, und das jahrzehntelang etablierte Parteiensystem scheint, vor allem in seiner linken Hälfte, bedroht zu sein.

Die aktuelle deutsche Gestalt einer neuen Politik der Wut: Oskar Lafontaine. (Foto: Foto: dpa)

Am Exzess von beidem ist die Weimarer Republik zugrundegegangen: Eine Hyperinflation ließ breite Mittelschichten verarmen, und ein Chaos von mehr als zwei Dutzend Parteien, nicht zuletzt die Spaltung der Linken, trug erheblich zur Verfassungskrise der Jahre um 1930 bei.

Nun sollte man weder die jüngsten Preissteigerungen übermäßig dramatisieren noch die Möglichkeit, dass die Linkspartei zu einer dauerhaften Kraft in allen Landesteilen wird. Mit einem dritten Gespenst, das ebenso ungute Reminiszenzen weckt, der Massenarbeitslosigkeit, hat die deutsche Gesellschaft jahrelang zusammengelebt, ohne sich nennenswert zu radikalisieren. Eine gemäßigte, wenn auch fühlbare Inflation hat die Bundesrepublik schon in den siebziger Jahren überstanden. Und ist der Aufstieg der westdeutschen Grünen seit 1980 zu Beginn nicht mit ähnlich sorgenvollen Kommentaren begleitet worden wie heute der Erfolg der Linken?

Das Gewässer mag in den vergangenen Jahren schwerer geworden sein, doch wer jetzt die Apokalypse ausruft, würde sich einer schweren Übertreibung schuldig machen. Auch führt der Blick in die Vergangenheit der Weimarer Republik vermutlich in die Irre.

Grenzen der Verfassung

Interessanter ist der Vergleich mit jüngeren Entwicklungen in den benachbarten Demokratien wie Italien, Belgien, den Niederlanden oder Polen. Alle diese Länder haben teilweise dramatische Umbrüche in ihren Parteienlandschaften erlebt, die sich immer noch nicht neu befestigt haben. Und hier erwies sich, dass das Bröckeln am einen Ende auch den Zerfall am anderen verursachte.

In Italien zerbröselten das linke und das rechte Lager parallel, um vorerst instabilen Neuformationen Platz zu machen. Historische Traditionsparteien mit jahrzehntelanger Vergangenheit wie die Democrazia Cristiana, die Sozialisten und die Kommunisten verschwanden teils vollständig, teils versanken sie in die Bedeutungslosigkeit. Wahlbündnisse, Regionalparteien und Ein-Personen-Verbände traten an ihre Stelle.

In Belgien und den Niederlanden treiben unberechenbare Protestparteien, teils mit regionalistischem Hintergrund, die alten Kräfte vor sich her. Ähnlich war es in Polen, wo eine national-klerikale Gruppierung vorübergehend die Staatsspitze mit einem Zwillingspaar besetzen konnte.

Und nun entsteht auch in Deutschland eine neue Kraft, die aus den historisch einmaligen Bedingungen der Wiedervereinigung und einer internen Abspaltung der traditionsreichen Sozialdemokratie genährt wird - eine Mischung aus Regional- und Protestpartei.

Unersetzlich

Man mag fragen, was an all diesen Entwicklungen so schlimm sein soll. Demokratie ist ein in Regeln geführter Wettkampf, bei dem neue Mitspieler selbstverständlich Zutritt haben, wenn sie das Regelwerk nicht abschaffen wollen. So lange die Grenzen der Verfassung beachtet werden, muss sich keine Demokratie in Gefahr wähnen. Erbhöfe, gar Monopole darf es nicht geben, und wenn die Zeit der großen Volksparteien vorbei ist, müssen eben schlankere Formationen an ihre Stelle treten.

Nun haben die Parteien in modernen Demokratien viele unterschiedliche Funktionen. Sie richten Feldzeichen auf, unter denen sich Bürger mit verschiedenen Überzeugungen und Interessen versammeln und denen sie ihre Stimme geben können. Dabei bilden sie Milieus, in denen sich politische Erfahrungen und historische Erinnerungen über Generationen stabilisieren. Unter diesem Gesichtspunkt wäre vor allem ein dauerhafter Bedeutungsverlust der Sozialdemokratie ein unersetzlicher Verlust.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum Berufspolitiker sich einer öffentlichen Verachtung erfreuen.

Wenn man, um ein anderes Beispiel zu nehmen, Gründe für die Schwäche der FDP angeben will, so dürfte einer der wichtigsten in der Unfähigkeit ihrer derzeitigen Führung liegen, sich überzeugend auf die große Tradition des politischen Liberalismus in Deutschland zu berufen. CDU und CSU kränkeln nicht zuletzt am Verblassen konfessioneller Bindungen.

Die andere große Aufgabe der Parteien ist es, wie spätestens seit Max Weber bewusst ist, das politische Personal zu rekrutieren und auszubilden, also jene Berufspolitiker hervorzubringen, ohne die der demokratische Prozess nicht am Laufen gehalten werden kann. Diese Leistung ist derzeit die undankbarste.

Berufspolitiker und Funktionäre jeglicher Couleur erfreuen sich einer so nachdrücklichen öffentlichen Verachtung, dass nicht einmal mehr rational über ihre Besoldung verhandelt werden kann. Wobei mancher nachdenkliche Staatsbürger vielleicht nicht einmal Dirk Kurbjuweits beeindruckenden Politiker-Roman "Nicht die ganze Wahrheit" braucht, um froh darüber zu sein, diesen Job nicht machen zu müssen.

Wüste Demagogie

Was Kurbjuweits Buch bis ins seelische Extrem ausspinnt, ist eine nur selten anerkannte zivilisatorische Höchstleistung des von den Parteien ausgebildeten Typus des Berufspolitikers: seine bis zur Selbstverleugnung gehende Affektkontrolle.

Von dem Grad an Geduld, Selbstbeherrschung und Zähigkeit, den die heutige Politikerexistenz verlangt, machen sich unzufriedene Bürger vermutlich gar keine zutreffende Vorstellung. Wer abschätzig von den professionellen Deformationen heutiger Berufspolitiker und ihres unmittelbaren Milieus spricht, sollte sich vor Augen führen, was die Alternative dazu ist: die Rückkehr der Wut in die Politik.

Fragt man sich nämlich, was das Gemeinsame an Erscheinungen wie Berlusconi, Haider, Pim Fortuyn, den Kaczynskis ist, wird nicht auf Programme stoßen, sondern auf eine affektive Enthemmung, die Berlusconi zu unflätigem Sprachgebrauch selbst auf europäischer Bühne, die Kaczynskis zu wüster Demagogie gegen Exkommunisten, Deutsche und Homosexuelle, die Repräsentaten des Vlaams Block zu Ausbrüchen gegen Wallonen und Muslime verleitete - unter dem Jubel ihrer Anhänger.

In diese Typologie des entfesselten Affekts gehört nun trotz anders gelagerter politischer Programmatik auch Oskar Lafontaine. Die Art, wie er Journalisten vor laufender Kamera anherrscht oder politische Gegner in Talkshows zu reizen versucht, dieser Stil, der in jeder Geste mitteilt, dass niemand ihm kommen könne, widerspricht allem, was die Demokratie in ihrem agonalen Alltag an Umgangsformen auf Dauer doch benötigt. Oskar Lafontaine ist die aktuelle deutsche Gestalt einer neuen Politik der Wut.

Die Enttäuschten

Man mag dieser Wut, die Lafontaine ausdrückt und anspricht, neben persönlichen Motiven - die aus seiner politischen Vergangenheit stammen - noch so viele sachlich plausible Gründe zubilligen, auf Dauer würde sie das politische Leben der Demokratie vergiften.

Die Linke ist in ihrer west-östlichen Mischung ein bizarrer Sonderfall der Parteientypologie: Im Osten rekrutiert sie sich weithin immer noch aus den Berufspolitikern und Funktionären der untergegangenen Diktatur, aus lokal vielfach bewährten Hoheitsträgern, die aus Kenntnis und Erfahrung auch unter demokratischen Umständen zu sachlicher Arbeit fähig sind; im Westen dagegen ähnelt ihr Personal den Enttäuschten und Beleidigten, die auch in anderen europäischen Ländern neue Parteien aus dem Boden gestampft haben.

Nicht das drohende Fünfparteiensystem könnte sich schon bald als Menetekel erweisen, sondern der damit einhergehende Tonwechsel im demokratischen Prozess. Denn wenn Wut ein Medium der Politik wird, dann können auch andere Gespenster wie Inflation und Arbeitslosigkeit - und all die anderen großen Probleme, mit denen Politik sich Tag für Tag rational und beherrscht herumschlagen muss - auf einmal zu unbeherrschbaren Bedrohungen werden.

© SZ vom 15.7.2008/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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