Politik:Falsche Rücksicht

European Commission president-elect von der Leyen visits Poland, Warsaw - 25 Jul 2019

Frisch zur Kommissionspräsidentin gewählt, besuchte Ursula von der Leyen den polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki. Wegen der Justizreform seiner Regierung läuft ein Verfahren gegen Polen in der EU.

(Foto: Radek Pietruszka/EPA-EFE/Shutter)

In der EU fehlt der politische Wille, gegen Regierungsparteien vorzugehen, die der Demokratie ihrer Länder schaden. Das hat sich bei der Wahl Ursula von der Leyens wieder gezeigt. Wie wird sie sich verhalten?

Gastbeitrag von Jan-Werner Müller

Nobody is perfect. Diese Lebensweisheit hat Ursula von der Leyen in einem Gespräch mit dieser Zeitung vergangene Woche geäußert. Eine derart gelassen-tolerante Haltung passt gut zu einer Gemeinschaft von Staaten, die einem Ethos von Kompromiss und gegenseitiger Rücksichtnahme verpflichtet ist: In der Europäischen Union lässt man es nie zum Äußerten kommen; die Union ist geradezu der Gegenentwurf zu einem Politikverständnis, welches Akteure in Freunde und Feinde sortiert. Von der Leyen fügte geschickt ein weiteres Signal hinzu, ganz so, als wolle sie sich von einem anderen deutschen Politiker absetzen, der vielen noch als eine Art schwäbischer Finanzpolizist in unguter Erinnerung ist: Statt wie Wolfgang Schäuble ohne Rücksicht auf nationale Besonderheiten auf die Einhaltung von Regeln zu pochen, unterstrich die frisch gekürte Kommissionspräsidentin, man müsse vor allem den osteuropäischen Völkern, welche sich manchmal zurückgesetzt fühlten, Verständnis entgegenbringen.

Diese Gesten der Rücksichtnahme, ja geradezu des Kümmerns, erscheinen allerdings weniger attraktiv im Lichte der besonderen Umstände der Wahl von der Leyens. Wer für sie gestimmt hat, werden wir natürlich nie erfahren (wohl genauswenig wie wir herausfinden werden, ob Angela Merkel in letzter Minute in Warschau Versprechen für eine Unterstützung der CDU-Politikerin gemacht hat). Aber es reicht schon, dass sich die polnische Regierungspartei PiS und Viktor Orbáns Fidesz damit brüsten, der Deutschen (die laut PiS zum Glück nicht in erster Linie Deutsche, sondern "Konservative" sei) ihre hauchdünne Mehrheit verschafft zu haben. Ob von der Leyen sich dafür erkenntlich zeigt, ist ihre Entscheidung. Aber allein, dass jetzt jede ihrer Entscheidungen zum Schutz von Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn unter dem Verdacht übertriebener Rücksichtnahme stehen wird, offenbart ein strukturelles Problem mit dem derzeitigen Modell wehrhafter Demokratie in Europa.

Zur Erinnerung: Die Europäischen Verträge sehen vor, dass eine Regierung, welche europäische Grundwerte wie Demokratie und Menschenrechte verletzt, von der gemeinsamen Entscheidungsfindung im Europäischen Rat - also der Runde der Regierungschefs - suspendiert werden kann. Nach den aus Sicht vieler Beobachter eher peinlichen Erfahrungen mit Haiders Österreich im Jahre 2000, als allerdings gar nicht die Union, sondern die übrigen EU-Staaten bilateral Sanktionen gegen die Alpenrepublik verhängt hatten, baute man eine Warnstufe in die EU-Abkommen ein. Es sollte vor dem Entzug der Stimmrechte möglich sein, offiziell vor der Gefahr einer Verletzung europäischer Grundwerte zu warnen - mit dem Ziel, die betreffende Regierung zur Einsicht zu bewegen.

Artikel 7 bedeutet eine Art europaweiten Isolationismus oder Quarantäne

Die Logik dieses im Artikel 7 des EU-Vertrages kodifizierten Verfahrens besteht nicht darin, in einem Mitgliedsstaat zu intervenieren. Theoretisch kann eine Regierung mit der Aushöhlung des Rechtsstaats fröhlich weitermachen, solange sie die Suspendierung im Rat in Kauf nimmt. Es stimmt auch nicht, dass ein Volk als Ganzes quasi vom europäischen Politbetrieb komplett ausgeschlossen würde: Die Abgeordneten des betroffenen Mitgliedsstaates sitzen weiter im Europäischen Parlament. Artikel 7 bedeutet eine Art europaweiten Isolationismus oder Quarantäne: Das Schicksal der übrigen EU-Bürger soll nicht mehr von einer Regierung mitbestimmt werden, welche sich nicht an Grundwerte hält; die große Mehrheit der Europäer isoliert sich von einer einzelnen Exekutive.

Aber auch diese letzten Endes recht milde Sanktion ist für viele europäische Regierungschefs schlicht undenkbar. Die Europäische Kommission, angeführt vom Vizepräsidenten für Rechtsstaatsangelegenheiten Frans Timmermans, hat ein Artikel-7-Verfahren gegen die polnische Regierung angestrengt; das Europäische Parlament hat im September vergangenen Jahres ein eben solches gegen die ungarische Regierung eingeleitet. Beide Verfahren werden vom Europäischen Rat verschleppt. Dort weiß man auch: Orbán und der de facto Regierungschef Polens, Jarosław Kaczyński, haben sich geschworen, ein Veto einzulegen, sollte es mit Sanktionen gegen den anderen ernst werden. Wie Architekten des Artikels 7 mittlerweile einräumen, liegt hier ein Konstruktionsfehler vor; es habe seinerzeit schlicht die Vorstellungskraft überstiegen, dass zwei Regierungen gleichzeitig grundlegende europäische Werte gefährden könnten.

Doch noch ein anderer Konstruktionsfehler ist in diesem Sommer 2019 sichtbar geworden. Wenn in Deutschland ein Parteienverbot angestrengt wird, darf der betreffenden Partei bekanntlich im politischen Wettbewerb kein Nachteil entstehen, solange Karlsruhe nicht die tatsächliche Verfassungsfeindlichkeit der Partei festgestellt hat. Ähnliches sollte fairerweise für eine wie immer geartete wehrhafte Demokratie in Europa gelten. Nur ist es in der EU de facto so, dass das Äquivalent der vielleicht zu verbietenden Partei entscheidenden Einfluss auf die Zusammensetzung der Gruppe derjenigen hat, welche über Sanktionen abstimmen. Ungarn und Polen haben offenbar eine wichtige Rolle dabei gespielt, Timmermans, der es nach anfänglichem Zögern mit der Durchsetzung europäischer Grundstandards ernst meinte, als Kommissionspräsident zu verhindern. Das ist so, als hätte die NPD mitentschieden, wie die Richterschaft aussieht, welche über ein Parteiverbot zu befinden hat.

Zumindest soll Timmermans wohl in seinem bisherigen Amt bleiben und auch weiterhin Druck auf Budapest und Warschau ausüben. Ursula von der Leyen hat versprochen, den Rechtsstaatsschutz (der eigentlich immer Rechtsstaats- und Demokratieschutz ist) nicht schleifen zu lassen. Ihre bisherigen Ankündigungen waren jedoch ebenso floskelhaft wie die des gescheiterten Spitzenkandidaten Manfred Weber. Von objektiver Beurteilung aller Länder ist typischerweise die Rede - ganz so, als sei Timmermans' bisherige Arbeit subjektiv oder gar parteipolitisch motiviert gewesen (wie es auch von PiS und Fidesz, die ihn zudem als von George Soros ferngesteuert darstellt, immer suggeriert worden ist).

In der Tat ist nicht jeder perfekt. Aber es gibt nur einen EU-Staat, der von Freedom House, dem allseits respektierten Institut zur Evaluierung von Demokratien, von einer konsolidierten Demokratie zu einer nur "teilweise freien" heruntergestuft worden ist - nämlich Ungarn (jetzt international vergleichbar mit der Ukraine, Pakistan und Zimbabwe). Und nur bei einem Land hat der Europäische Gerichtshof unmissverständlich festgestellt, dass die vermeintliche "Justizreform" die Unabhängigkeit der Judikative zunichtemacht - nämlich Polen. Das hat nichts mit Unverständnis oder Vorurteilen gegenüber Osteuropa zu tun. Und, weniger offensichtlich: wer sich hier aus falscher Rücksichtnahme mit Kritik zurückhält, agiert nicht betont neutral; er enttäuscht all diejenigen Ungarn und Polen, die an das Versprechen der EU geglaubt haben, mit dem Beitritt 2004 sei eine Rückkehr zu schlechten alten autoritären Zeiten unmöglich geworden.

Es fehlt nicht an Prozeduren, sondern am politischen Willen

Die EU braucht auch nicht unbedingt neue "Instrumente". Die Kommission hat mit dem sogenannten "Rechtsstaatsverfahren" seit 2014 bereits eine weitere Vorstufe zur Vorstufe des Artikels 7 - bewirkt hat das nicht viel. Es fehlt nicht an Prozeduren, sondern am politischen Willen. Und das vor allem bei der Parteifamilie, welche Europa noch immer dominiert: Der Europäischen Volkspartei. Manfred Weber, der sich zuletzt als Opfer einer "Macron-Orbán-Achse" darstellte, hat mit jahrelanger Nachsicht gegenüber seinem Parteifreund Viktor entscheidend dazu beigetragen, dass in Budapest eine softe Autokratie errichtet werden konnte. Zwar versuchte er, sich im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament als couragierter Hüter europäischer Grundwerte zu profilieren, indem er sich dafür aussprach, Fidesz von der EVP zu "suspendieren". Einige EVP-Mitglieder machten aber bald klar, dass bei ihnen so etwas wie eine Suspendierung eigentlich nicht vorgesehen sei. Und siehe da: Trotz vermeintlicher Suspendierung ist jüngst eine Fidesz-Abgeordnete auf Vorschlag der EVP zu einer Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments gewählt worden.

Und was noch geschah: Während der Monate, in denen die EU wegen des Übergangs von der alten zur neuen Kommission quasi lahmgelegt ist, zerstörte Orbán einige der wenigen verbliebenen unabhängigen Institutionen in seinem Reich, die Akademie der Wissenschaften - kein Mucks kam von EVP. Weber hatte immer wieder gesagt, der Schutz der Wissenschaft sei eine seiner "roten Linien." Wie bei allen schon vorher gezogenen, ist Orbán auch über diese souverän hinweggeschritten.

Europa kann nicht nur mit Unterschieden leben, es lebt geradezu von diesen - keine Sonntagsrede über den alten Kontinent, der nicht seine Diversität lobte. Es kann sogar mit, wie von der Leyen sagt, Defiziten bei der Rechtsstaatlichkeit umgehen. Womit die EU aber nicht leben kann: Systematische Versuche, die Unabhängigkeit der Justiz zu zerstören, Wahlen zu manipulieren und den Medienpluralismus zu schwächen. Hier handelt es sich nicht um provinzielle Problemchen oder Zeichen von Unterentwicklung, die man mit gemeinsamem gutem Willen mehr oder weniger technokratisch lösen könnte. Es sind grundlegende politische Konflikte, und ihre Urheber zielen auf die Substanz der EU als solche. Nationale Gerichte sind auch immer europäische Gerichte, da die EU auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung der jeweils nationalen richterlichen Entscheidungen basiert. Als überzeugte Europäerin, die weiß, wie die Union wirklich funktioniert, wird all dies auch der zukünftigen Kommissionspräsidentin klar sein.

Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie an der Universität Princeton. Kommenden Januar erscheint sein Buch "Furcht und Freiheit: Für einen anderen Liberalismus" (Suhrkamp).

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: