Politroman "Gegen die Zeit":Messbecher für Milchpulver

CHILE-ALLENDE-CONMEMORACION

Das Chile Allendes wirkt in "Gegen die Zeit" wie ein spannendes Experiment mit verblüffenden Berührungspunkten zur Gegenwart.

(Foto: AFP)

In seinem Roman "Gegen die Zeit" zeichnet Sascha Reh das sozialistische Chile Salvador Allendes als verblüffend zeitgemäßes Gesellschaftsexperiment.

Von Helmut Böttiger

Wenn das Wörtchen "Liebe" in einem Atemzug mit Begriffen wie "Sozialtechnik" erwähnt wird, befinden wir uns auf dem Höhepunkt der Siebzigerjahre. Politische Termini beherrschten damals die Gespräche ungefähr so, wie es heute Speichermedien, Gigabytes und Wlan-Anschlüsse tun.

Zu den wüstesten Einschnitten jener Zeit gehörte zweifellos der Putsch des Generals Pinochet in Chile am 11. September 1973 - einem anderen, mittlerweile längst in den Hintergrund getretenen Schicksalsdatum also, das an diesen Tag gebunden ist.

Pinochets Militärputsch, mit tatkräftiger Unterstützung der CIA, richtete sich gegen die frei gewählte und bei der nächsten Wahl noch einmal bestätigte sozialistische Regierung von Salvador Allende.

Der 1974 geborene Sascha Reh hat das erzählerische Potenzial erkannt, das in der damaligen Konstellation liegt: ein geschichtlicher Moment, in dem so eindeutig wie selten Gut und Böse zu unterscheiden waren, Recht und Unrecht, dramatisch aufgeladen durch die Gewalt des Militärs und der US-Logistik.

Mittendrin steht der junge Deutsche Hans Everding, die Hauptfigur des Romans. Hans hat in Ulm Industriedesign studiert und ist dann in Frankfurt in die politisch aufgeheizte Situation nach 1968 gekommen.

Ein sehr heutiges Erkenntnisinteresse, verbunden mit Allendes Sozialismusvorstellungen

Durch die Vermittlung seines Professors geht er als Entwicklungshelfer nach Chile und lernt dort in Alfonso einen der neuen Politiker kennen, die nach konkreten Möglichkeiten gesellschaftlicher Umgestaltung suchen.

Dreh- und Angelpunkt der Geschehnisse ist ein Datennetzwerk, das Hans mit aufbaut. Es soll eine neue Basis für die chilenische Wirtschaft schaffen, sie effizienter und leistungsfähiger machen, vor allem aber flexibel auf die Bedürfnisse der Bevölkerung reagieren.

Diese Institution namens Synco hat es im Chile Allendes tatsächlich gegeben. Bei Sascha Reh wird daraus das Corfo-Team. Es bringt mit den aktuellen kybernetischen Methoden die gesamte Industrieproduktion Chiles auf den neuesten Stand. Der Zweck liegt nicht im Profit, sondern in einem weitaus gerechteren Verteilungssystem als im Kapitalismus.

Der Clou dabei ist, dass das Ganze computergestützt ist und auf einer vollkommen neuen Technik beruht. Das verbindet ein sehr heutiges Erkenntnisinteresse mit Allendes Sozialismusvorstellungen, die einen bis heute einzigartigen Versuch eines nicht totalitären antikapitalistischen Gesellschaftssystems darstellen.

Furios setzt der Roman ein: in den ersten Stunden nach dem Putsch

Der englische Kybernetiker Stanley Baud erscheint im Roman Sascha Rehs als ein Avantgardist und Visionär. Baud hat bereits die heutigen Formen von Informationstechnologie im Blick und will sie wahrhaft demokratisch nutzen.

Sein Modell, das er "Cybernet", nennt, hat mit bürokratischer Planwirtschaft nicht das Geringste zu tun, will aber alles unterbinden, was die Menschen zu "Konsumsklaven" degradiert und ein "hochkomplexes, multikausales und gleichzeitiges Geschehen", wie Baud die Industrieproduktion definiert, "kontrollierbar" machen.

Lustvoll beschreibt Sascha Reh die Innovationen des Corfo-Teams, die frühen Bildschirm- und Verschalttechniken mit riesigen Prozessoren, Fernschreibern und Lochstreifen.

Politroman "Gegen die Zeit": Sascha Reh: Gegen die Zeit. Roman. Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2015. 353 Seiten, 21,95 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

Sascha Reh: Gegen die Zeit. Roman. Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2015. 353 Seiten, 21,95 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

Das Chile Allendes wirkt dadurch nicht verstaubt oder gestrig, sondern wie ein spannendes Experiment. Der Grafikdesigner Hans sieht sich in den Kern des Geschehens hineinkatapultiert.

Nur eine Kleinigkeit im Vergleich zu den folgenden Projekten ist, dass er gleich am Anfang einen Messbecher für das Milchpulver entwirft, das den unteren Schichten zur Verfügung gestellt wird. Dadurch verhindert er den falschen Gebrauch durch die weitgehend analphabetische Bevölkerung.

Furios setzt der Roman mit dem Ende der Allende-Regierung ein, mit den ersten Stunden nach dem Putsch. Hans und sein Kollege Óscar versuchen in diesem brutalen Umfeld, in dem wahllos gemordet wird und alle menschlichen und zivilisatorischen Gesetze außer Kraft gesetzt sind, die Codes und wichtigsten Daten des Corfo-Systems zu retten und schlagen sich mit ihrem wertvollen Koffer durch das chaotische Santiago.

Der oberste Militär erfüllt alle Erwartungen, die man bei einem Zyniker hat

Das Ganze ist mit Rückblenden erzählt, die große Zeit des Allende-Enthusiasmus und der Überlebenskampf danach wechseln sich in den einzelnen Kapiteln ab. So sind die Zukunftshoffnungen und die Traumata hart gegeneinander geschnitten. Die Sprache ist reportagehaft, vor allem die Unberechenbarkeit und Grausamkeit des Militärs erscheinen in einem scharfen Realismus, wie als genaue Vorlage für ein Filmdrehbuch.

Auch die Figur des Comandante Brauer, der Hans Everding nach dem Putsch im Gebäude des Corfo verhört, hat man sofort vor Augen: ein deutschstämmiger Chilene, der das Deutsche mit ungelenken Fremdwörtern anreichert. Brauer hat einen leicht verschobenen Satzbau.

Leseprobe

Einen Auszug des Romans stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Das entspricht seiner Undurchsichtigkeit, seinen taktischen Manövern, seinem Versuch, Hans irgendwelche Geheimnisse abzuluchsen. Und der oberste Militärangehörige, den dieser zu Gesicht bekommt, Coronel Barrientos, erfüllt alle Erwartungen, die man bei einem zynischen Offizier hat.

Sympathien für Allende, aber Reserven gegen die Politik

Der Gefahr des Klischees, des Abrufens allzu erwartbarer Bilder entgeht der Autor nicht immer. Am deutlichsten wird dies merkwürdigerweise in den kurzen Szenen an der Frankfurter Universität um 1970: die Gesichter, die Parolen, die Sprechweisen wirken fast wie eine Satire auf überkommene Vorstellungen von den 68ern und ihrem Politfanatismus.

Allendes Chile erscheint dagegen durchaus differenziert, und vereinzelt gelingen Sascha Reh schöne Genrebilder wie das des Bootsbauers Waldo: Hans versucht, diesen Mann, der sich mit Kunstharzen sehr gut auskennt, dazu zu überreden, bildschirmgerechte Bürostühle herzustellen. Waldo als genialischer Kauz, als Einzelgänger, der Sympathien für Allende, aber Reserven gegen die Politik hat, ist eine charakteristische Figur.

Sascha Reh wagt sich auch formal ein bisschen aus der Deckung, wenn er die beiden Erzählebenen vermischt: So stellt der Juntacomandante Brauer Hans dieselben Fragen wie früher die Corfo-Mitarbeiter dem Experten Stanley Baud. Das wird ineinandergeblendet und ergibt ein charakteristisches Flimmerbild.

Die Parallelisierungen mit dem Vater von Hans, der seinerseits durch den Krieg traumatisiert wurde, entsprechen dann aber eher routinierten Mainstream-Schreibmodellen von heute.

Zum packenden Politroman gehört auch eine Liebesgeschichte

Als ureigenes literarisches Sujet ist in diesen Politroman natürlich auch eine Liebesgeschichte eingebettet. Hier gibt es, wohl genrebedingt, gewisse Schnittstellen mit einer aufs Spektakuläre ausgerichteten Hollywood-Ästhetik.

Ana, die Chilenin, die bei Corfo als Grafik-Designerin arbeitet, wird umso rätselhafter, je näher sie an die Hauptfigur Hans rückt. Sie bleibt, durch die schicksalhaften Zeitumstände befeuert, eine unerreichbare Fantasie, obwohl es einige wenige ekstatische Momente des Zusammenseins gibt.

Wenn der Bootsbauer Waldo über seine verflossenen Frauen spricht, ist das wie eine Spiegelung der Erfahrungen, die Hans später mit Ana macht: "Die Richtige erkennt man erst, wenn sie weg ist."

Dieser Roman setzt weniger auf literarisch-ästhetische Mittel als auf die klassischen Ingredienzen von Spannungs- und Liebesliteratur, ist aber durchaus packend und lesenswert. Und bietet nebenbei eine Einführung in eine fast vergessene Polit-Archäologie, die verblüffende Berührungen mit der Gegenwart hat.

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