"Poliça" aus Minneapolis:Dezent großspurig

Rapper Jay-Z und der Folksänger Bon Iver sind sich einig: "Poliça" ist die neue Band der Stunde. Die Musiker rund um die Sängerin Channy Leaneagh verbinden Genre wie R'n'B mit elektronischer Musik. Der Sound, der dabei entsteht, ist, als hätte sich die Popmusik wieder einmal selbst überrundet.

Annett Scheffel

Spätestens als Kanye West 2010 sein Album "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" veröffentlichte, war klar: Die alten Genre-Grenzen zwischen Hip-Hop, Elektro und Indiepop sind endgültig verschwunden. Der klebrige Klumpen, zu dem die Popmusik des 21. Jahrhunderts geworden war, hatte sich zähflüssig über alle Unterschiedlichkeiten gelegt. Und Kanye West hatte die Sache mit seiner arroganten Ignoranz auf einen neuen Gipfelpunkt getrieben. In einem fast ekstatischen Akt hatte er die Musikrichtungen - alle ursprünglich alternativen Subkulturen entsprungen - untrennbar verschmolzen und dem Mainstream einverleibt. Er vereinte Rihanna und Jay-Z mit dem Digitalfrickler Aphex Twin und dem Waldhütten-Folksänger Bon Iver.

Polica

Channy Leaneagh, Sängerin der Band "Poliça".

(Foto: Cameron Wittig)

Die Verbindung von Hip-Hop-Schwergewichten wie West und Jay-Z mit Folk-Musikern aus dem Mittleren Westen wie Justin Vernon alias Bon Iver, wirkt bis heute nach. Auch deshalb sind sich Musiker aus beiden Lagern in diesen Tagen einig, wenn sie von Poliça schwärmen, einer Band, die aus der äußerst produktiven Musikszene von Minneapolis hervorgegangen ist.

Jay-Z stellte deren Video zur Single "Lay Your Cards Out" auf seinen "Life+Time"-Blog und schrieb begeistert: "der erste von vielen Fingerzeigen, die noch folgen werden". Und Justin Vernon erklärte das Projekt um die eindrucksvolle Sängerin Channy Leaneagh in einem Interview mit dem Musikmagazin Rolling Stone nach seinem doppelten Grammy-Gewinn im Februar kurzerhand zur "besten Band, die ich je gehört habe".

Der Zuspruch aus allen Richtungen dürfte mit einer Besonderheit von Poliças Musik zu tun haben: Sie bündelt verschiedenste Stile. Poliça-Songs verbinden R'n'B und elektronische Musik so, als ob sie Teil eines organischen Ganzen wären. Sie klingen wundersamerweise künstlich und ungekünstelt zugleich, digital und doch ganz und gar analog.

Poliça ist das erste Nebenprojekt, das aus dem Musikkollektiv Gayngs hervorgegangen ist, dem neben Bon Iver noch zwei Dutzend weitere Künstler aus dem Mittleren Westen angehören. Gayngs' Album "Relayted" aus dem Jahr 2010 spielt mit Neo-Soul und Achtziger-Jahre-Softrock - ist dabei jedoch zugleich Hommage und Satire. Produzent und Gayngs-Gründer Ryan Olson hat auch die Sängerin Channy Leaneagh entdeckt.

Aus einem Experiment wurden elf Songs

Während einer Westküstentour fingen die Beiden an gemeinsam zu experimentieren. "Ich wollte sehen, was möglich war, wenn sie auf sich allein gestellt war", sagt Olson. Als Experiment geplant, entstanden aus der Zusammenarbeit in kurzer Zeit elf Songs, die nun in den USA auf dem Album "Give You The Ghost" veröffentlicht wurden.

Gründe für eine musikalische Veränderung gab es für die ehemalige Folksängerin Channy Leaneagh genug: Nach der Scheidung von Alexei Moon Caselle und dem Ausstieg aus der gemeinsamen Band Roma di Luna experimentierte sie viel mit dem Tonhöhenkorrektur-Programm Auto-Tune. So entstand ein Vokalstil, für den Ryan Olsons elektronischer Abenteuergeist die passende Umgebung lieferte.

Songs, die in Zwischenräumen taumeln

In Fetzen schwebt ihre Stimme - mal hell und klar, mal digital aufgepeitscht und ausgefranzt - über dichten elektronischen Arrangements. Leicht und schallend wie ein umherirrendes Echo. Durch Auto-Tune wird die Stimme zum Instrument. "Als ich gelernt hatte, wie man es benutzt", so Channy Leaneagh, "begriff ich, wie viel experimentierfreudiger ich beim Songschreiben sein konnte. Auto-Tune fügt allem etwas Dramatisches hinzu. Ich mag die Art, wie es die Stimme beeinflusst. Fast so wie ein Effektpedal den Klang einer E-Gitarre."

Um die Band zu komplettieren, hat Ryan Olson, der selbst kein offizielles Bandmitglied ist, die Schlagzeuger Ben Ivascu von den Marijuana Deathsquads und Drew Christopherson von Digidata, sowie den Bassisten Chris Bierden von den Vampire Hands angeheuert. Auch sie sind Musiker aus dem Umkreis von Gayngs. Die Drums unterstützen Olsons Synthesizer-Flächen sehr perkussiv, in "Violent Games" erst kraftvoll und schnell wie Maschinengewehrsalven. Später, im bereits Ende 2011 im Netz veröffentlichen Song "Dark Star" eher im ganz locker wippenenden mid-Tempo. Der Song bekommt so den Charme einer Achtziger-Jahre-R'n'B-Nummer verpasst, was erstaunlich gut funktioniert.

Überhaupt scheinen die Songs immer in Zwischenräumen zu taumeln, ganz so, als könnten oder wollten sie sich nicht für die ein oder andere Seite entscheiden. Sie wirken düster und nebelig trüb, sind aber wegen der Unmittelbarkeit von Leaneaghs Stimme gleichzeitig aufwühlend klar. Sie schleppen sich melancholisch über Olsons Moll-Arrangements hinweg und überraschen mit tänzelnden Funkelementen.

Zurück in die Anfangszeit von Hip-Hop

Herzschmerz und Einsamkeit, Freude und Glück - alles findet simultan statt. Oder wie es Channy Leaneagh auf dem Valentinskonzert zur Plattenveröffentlichung sagte: "This is for the lovers and the lonely." Ein Adressatenkreis, der so groß ist, dass es beinahe der Mainstream sein könnte. Das Außergewöhnliche an Poliças Pop ist dabei die Mischung aus einer gewissen Hip-Hop-Großspurigkeit und der typischen Singer-Songwriter-Dezenz.

Die Musik könnte genauso gut vor dem gigantischen Mischpult Kanye Wests entstanden sein wie in der einsamen Waldhütte im US-Bundesstaat Wisconsin, in der die großen traurigen Balladen Bon Ivers entstanden sind.

Die Orte und die Herkunft verschwinden hier im selben Nebel wie die Genregrenzen. Poliça stellen damit in mancher Hinsicht sogar Kanye Wests Opus Magnum "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" in den Schatten.

Mit der Unprätentiösität einer Garagenband weisen sie den Weg zurück in die Anfangszeit von Hip-Hop, Indie und elektronischer Musik. Im subkulturellen Geflecht der siebziger Jahre waren diese Genres schon einmal fast so eng verbunden, wie sie es hier jetzt wieder sind. Es ist, als hätte sich mit Poliça die Popmusik wieder einmal selbst überrundet.Toll.

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