Das Zentrum für Kultur- und Wissensdialog der Universität Koblenz-Landau wirbt damit, den Slam zum Bestandteil einer innovativen Ausbildung von Lehrern zu machen. Ihnen soll die Performance vor Publikum dazu verhelfen, den Schock des späteren Auftritts vor der Klasse abzumildern. So geht es beim Schul-Slam weniger um die Berufsqualifikation der Schüler - diese findet nach wie vor besser in Betrieben statt -, sondern um die Weiterbildung von Lehramtspersonal. Welcher Autorentyp mag in einem solchen Umfeld gedeihen? Gottlieb Biedermaier, jene Mitte des 19. Jahrhunderts erfundene Figur eines schwäbischen Dorfschullehrers, wurde zum Stellvertreter einer Epoche. Der Mainstream der heutigen Slam-Literatur steht mit seiner humoristischen Gemütlichkeit dem Biedermeier sehr viel näher als dem Jungen Deutschland.
Der Jugendliche muss im Schul-Slam erfahren, dass es keinen Bereich des Lebens gibt, auf den nicht schon der Staat seine Institutionen aufsetzt. In Anknüpfung an Habermas ließe sich dieser Prozess als die Kolonialisierung einer (sub-)kulturellen Lebenswelt durch das Bildungssystem beschreiben. Oder zugespitzter, im Sinne Foucaults: das überwachende Schulsystem ergänzt den Deutschunterricht um eine neue Disziplinartechnik. Erste Anzeichen gibt es, dass der Slam von politischen Akteuren als Vehikel für Gender- und Integrationsprojekte vereinnahmt wird. Wo Bildungsministerien Slam-Projekte unterstützen und Grüne den Slam als Jugendkultur gefördert wissen möchten, bringt sich der vormundschaftliche Staat in Stellung. Die Kunst dankt ab.
Erhellend ist die Auskunft eines Schulleiters im Fichtelgebirge, dessen Wirtschaftsfachschule einen Slam initiierte: "Damit betreiben wir nicht nur Sprachförderung, sondern die Schüler lernen auch etwas über Gestik, Mimik und natürlich Selbstdarstellung - und das ist im beruflichen Leben später von Nutzen." Der von Pädagogen gelobte Kompetenzerwerb ist ein Performanzerwerb, er interpretiert die Ausbildung von Wissen als ein Wissen über Vorführungseffekte. "Performance" heißt das Paradigma einer Gesellschaft, die ihre Menschen der totalen Bewirtschaftung unterwirft: Die Popularkultur arbeitet dem Menschenzoo zu.
Es scheint, dass der Slam derzeit die Bedürfnisse eines jüngeren Literaturpublikums erfüllt, das sich mit andauernder Ulkkultur wegduckt vor den gesellschaftlichen Umbrüchen, die sich ankündigen, und sich für eine Unternehmenskultur fit macht, in der sich fehlende Befähigung durch Attitüde kompensieren lässt. Der Slam mag von seinen Ursprüngen her mit der Aura eines emanzipativen Gegenmodells zur Gesellschaft umgeben sein, er entwickelt sich aber mehr und mehr zu einer kulturellen Farce, in der Wettbewerbsdogma, Performancezwang und Herdentrieb einander beflügeln.
Nicht einmal in den Avantgarden gab es eine literarische Szene solchen Ausmaßes und Vernetzungsgrades, wie sie die aktuelle Slam-Bewegung erreicht hat. Strukturell vergleichbar wäre sie allenfalls mit der russischen Proletkult-Bewegung zwischen 1917 und 1920 - mit dem wesentlichen Unterschied, dass der Slam nie in der Lage war, sich programmatisch zu artikulieren. Denn obwohl die Slam-Szene durchaus den Charakter einer literarischen Bewegung hat, unterscheidet sie sich von genuin literarischen Bewegungen durch die Abwesenheit einer Poetik. Je erfolgreicher die Bewegung wird, desto deutlicher tritt hervor: Slam ist ein Phänomen des literarischen Lebens, aber keine Strömung der Literatur.
Der Autor, geboren 1968 in Hannover, ist Schriftsteller, PR-Berater und einer der Wegbereiter der deutschen Spoken-Word-Szene.