Poetische Mobilmachung 1914:Die alte Lüge vom süßen, ehrenvollen Tod

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"Steh' ich in finstrer Mitternacht": Postkarte mit Reimereien. Die Erfahrung in den Schützengräben passte nicht zu den Ideen vom Heldentum im Kriege. (Foto: AFP)

"Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen": Im August 1914 erlebte Europa nicht nur eine militärische, sondern auch eine poetische Mobilmachung - von der nach Beginn des Ersten Weltkriegs nicht viel übrig blieb.

Von Willi Winkler

In den meisten deutschen Dörfern steht in der Mitte, oft in der Nähe der Kirche oder auch beim längst umgewidmeten Feuerwehrhaus, ein vernachlässigtes Denkmal, mit dem in Granit der Söhne gedacht wird, die zwischen 1914 und 1918 für die Heimat gefallen sind. (Die Töchter durften damals noch nicht in den Krieg.) Viele Denkmäler haben einen Anbau und führen ein weiteres Totenregister für den Zweiten Weltkrieg. Nicht selten stehen gleichlautende Namen untereinander, zwei, drei Brüder, Cousins, der Vater, alle gestorben in Flandern, an der Somme, vor Stalingrad, und immer für Deutschland. Ein Stahlhelm, ein stilisiertes Kreuz symbolisiert das Soldatenopfer, und mit Glück wird einmal im Jahr ein Kranz niedergelegt: der Dank des Vaterlands.

Das Vaterland ist als Auftraggeber ebenso wie der dafür fällige Heldentod recht heruntergekommen in den letzten hundert Jahren. 1914 war das anders, da war die Zeit so groß, dass sie nur noch Deutsche beziehungsweise Engländer, Franzosen, Russen und so weiter kannte, die alle in der Vaterländerei schwelgten und Helden sonder Zahl produzierte. Der Krieg musste so sein, wie Rilke seinen "Cornet" geschildert hatte, ein Buch für den Tornister, geschrieben angeblich in einer einzigen Nacht: "Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag." Nie gab es eine bessere Zeit für Dichter.

Rudolf Alexander Schröder brummt zu Kriegsbeginn Pathetisches: "Heilig Vaterland/ in Gefahren,/ deine Söhne stehn,/ dich zu wahren,/ von Gefahr umringt,/Heilig Vaterland,/schau, von Waffen blinkt/jede Hand." Es kostet ja nichts oder allenfalls ein paar große Worte, wenn Heinrich Lersch den Tod feiert: "Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen."

Der Satz steht seit 1932 an der Mauer des Soldatenfriedhofs Langemarck, er steht noch heute unter einem Kriegerdenkmal am Hamburger Dammtorbahnhof. Die sterbenssüchtigen Dichter wussten ja nichts von der Materialschlacht, vom Stellungskrieg, vom massenhaften Verrecken selbst bei leichten Verletzungen.

"Das Große, was wir Deutsche wollen"

Der Krieg brach aus im schönen August-sommer von 1914, ein großes Abenteuer, erst recht für die, die noch zu jung dafür waren. Doch Ersatzdienst gab's zu leisten, "Turmwacht", eine Nacht auf dem Perlach, dem höchsten Turm der ehemals Freien Reichsstadt Augsburg, um "Fliegerspähe" zu halten. Der 16-jährige Eugen Berthold Friedrich Brecht hat sich begeistert dafür gemeldet, schaut herab auf das "Gewirr der oft engen, winkligen Straßen", aus denen sich "Giebel wie gefaltete Hände" erheben, und wirbt anschließend in einem Feuilleton der Augsburger Neuesten Nachrichten für sein nächtliches Treiben: "Möchtet ihr nicht auch so Turmwacht halten fürs Vaterland?"

Am Bahnhof beobachtet er den Abschied der Soldaten: "Und unter den blütengeschmückten Helmen leuchten die Augen in dem schweißglänzenden Gesicht." Er kann schon wie ein Großer: "Das Große, was wir Deutsche wollen", beschwört er in einem "Kriegsbrief" musterschülerhaft: "Unsere Ehre wahren. Unsere Freiheit wahren, unser Selbst wahren. Und das ist aller Opfer wert."

Uniform-Marotte von Kaiser Wilhelm II.
:Russisch, englisch, türkisch sind alle meine Kleider

Kaiser Wilhelm II. schlüpfte in alle Uniformen - außer in die französischen. SZ.de dokumentiert den bizarren Tick des letzten deutschen Kaisers.

Mit Aufnahmen von SZ Photo.

Wenn er auch nicht mit hinausziehen darf im klingenden Spiel wie die etwas Älteren, kann er sie doch begleiten mit seinen Gedichten. Im Gymnasiasten erwacht der Dichter. Den Kaiser feiert er mit August-Stramm-Härte, wenn er "König des Lands" auf den Genitiv "Immanuel Kants" reimt. Die Lokalzeitung druckt auch das gern. Von diesem Wilhelm II. weiß der junge Brecht genau, dass er rief "zum Krieg seiner Deutschen eherne Schar/Weihte klirrend das alte Schwert am Altar". Vom Schwert, dem klirrenden, kann der sich unter dem Pseudonym "Berthold Eugen" erregende Dichter gar nicht genug kriegen. Mit der Feder in der Faust wirft er sich in die "Kriegsfürsorge": "Zu teilen heißt es jetzt sein Hab und Gut/Mit denen, deren Nährer mit dem Schwert/In den Fäusten ließen stolz für Dich ihr Blut". Unsägliches Zeug, pubertäre Verse, aber nicht anders als das, was erwachsene Dichter 1914 ff. hekatombenweis produzierten.

Nach einer sicherlich übertriebenen Angabe von Julius Bab entstanden allein im August 1914 anderthalb Millionen Gedichte, von denen allerdings nur hunderttausend gedruckt werden konnten. Brecht war eifrig dabei: "Das ist so schön, schön über all' Ermessen/Daß Mütter klagelos die Söhne sterben sehn/Daß alle ihre Sorgen still vergessen/Und um des Großen Sieges nun beten gehn."

Kriegsausbruch 1914
:Mit Hurra ins große Gemetzel

Ein überstolzer Kaiser, jubelnde Soldaten, der Glaube an einen schnellen Sieg: Vor hundert Jahren begann der Erste Weltkrieg. Fotos aus dem Jahr 1914, als die Welt brannte und das alte Europa zerbrach.

Wilhelm II., der nicht bloß Oberster Heerführer war und Erster Archäologe des Reiches, verstand sich selbstverständlich auch als Bildungschef. 1890 hatte er zur Eröffnung der Schulkonferenz dekretiert: "Wer selbst auf dem Gymnasium gewesen ist und hinter die Coulissen gesehen hat, der weiß, wo es fehlt. Und da fehlt es vor Allem an der nationalen Basis. Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen; wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer. (. . . ) Der deutsche Aufsatz muß der Mittelpunkt sein, um den sich Alles dreht." Im deutschen Aufsatz wurden während des Krieges Themen wie "Viel Feind, viel Ehr" aufgegeben, aber in Augsburg wollte man auf Klassisches nicht ganz verzichten. Im Juni 1916 gab der Deutschlehrer am Realgymnasium für den Besinnungsaufsatz das patriotische Thema "Dulce et decorum est pro patria mori" (Süß und ehrenvoll ist, fürs Vaterland zu sterben) vor. Der Spruch stammte aus einer der berühmtesten Oden des römischen Dichters Horaz und wird bis heute gern zitiert, wenn auch inzwischen eher abfällig.

"Kann nur als Zweck-Propaganda gewertet werden"

Der größte Ironiker unter den Lateinern meinte es seinerzeit sturernst mit seiner Aufforderung, doch im Interesse der großen Sache freudig in den Tod zu gehen: "Mors et fugacem persequitur virum/nec parcit inbellis iuventae/poplitibus timidoque tergo" - "der Tod verfolgt auch den flüchtenden Mann und verschont nicht kriegsscheuer Jugend Knie und ängstlichen Rücken" (nach Gerhard Fink).

Doch der weiland Berthold Eugen war 1916 zwar immer noch ein Dichter, aber kein Patriot mehr; die Vorgabe nutzte er für einen kleinen Aufstand. Ein Mitschüler hat die Antwort überliefert. Ob der 18-jährige Brecht wirklich so brillant zu formulieren verstand, ob er wirklich bereits 1916 von "Zweck-Propaganda" sprach, ist nicht zu beweisen, doch durch das schwäbische "entwetzen" kann ihm der Aufsatz ohne Weiteres zugerechnet werden.

"Der Ausspruch, daß es süß und ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben", hebt der desillusionierte Pathetiker an, "kann nur als Zweck-Propaganda gewertet werden. Der Abschied vom Leben fällt immer schwer, im Bett wie auf dem Schlachtfeld, am meisten gewiß jungen Menschen in der Blüte ihrer Jahre. Nur Hohlköpfe können die Eitelkeit so weit treiben, von einem leichten Sprung durch das dunkle Tor zu reden, und auch dies nur, solange sie sich weitab von der letzten Stunde glauben. Tritt der Knochenmann aber an sie selbst heran, dann nehmen sie den Schild auf den Rücken und entwetzen, wie des Imperators feister Hofnarr bei Philippi, der diesen Spruch ersann."

Der Lehrer wollte sich selbstverständlich keinen Hohlkopf schimpfen lassen, schon gar nicht, wenn es um den Dichter Horaz ging, den er von der Klasse wehrkraftertüchtigend ins Feld geführt haben wollte. Doch der unbotmäßige Schüler Brecht hatte sich näher mit Horaz befasst, als dem Lehrer lieb sein konnte. In einer anderen Ode hat Horaz seine machtgeschützte Heldenhaftigkeit selber denunziert. Ehe er zum "feisten Hofnarren" des Augustus aufstieg, lernte Horaz den Krieg nämlich persönlich so gut kennen, dass er desertierte. Das war 32 vor Christus, in der Schlacht bei Philippi, in der Augustus, damals noch ohne diesen Ehrentitel und ein schlichter Octavian, an der Seite Marc Antons die Caesar-Mörder Brutus und Cassius schlug.

Der Dichter, der so abfällig von der kriegs- und kampfungewohnten Jugend spricht, fordert das Opfer ausgerechnet unter Augustus, als nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs endlich Frieden im Römischen Reich eingekehrt ist. In jener anderen Ode ruft er erinnerungsselig Pompejus an, den "ersten meiner Kameraden": "Mit dir zusammen habe ich Philippi und die rasche Flucht/Erlebt, als ich den Schild nicht eben rühmlich dort ließ,/Als Mut gebrochen war und trotzige Helden/Schimpflich den Boden mit dem Kinn berührten."

Schon Lessing hat 1754 versucht, Horaz von dem Vorwurf freizusprechen, er sei ein "feigherziger Flüchtling" gewesen, den eine glücklich erscheinende homerische Wolke den nacheilenden Feinden entrückte. Brechts Horaz lässt, in falschem Verständnis der Stelle, den Schild nicht fallen, sondern schiebt ihn auf den Rücken, um damit abzuhauen. Schimpflich, und der Mut gebrochen.

Der Knochenmann langte 1916 kräftig zu; allein um Verdun starben in jenem Jahr dreihunderttausend Soldaten, noch mehr durften am eigenen Leib fühlen, wie süß es war, fürs Vaterland verletzt zu werden. Brechts Schulfreund Caspar Neher hatte sich freiwillig gemeldet, hatte vom Großen Krieg aber spätestens genug, als er verschüttet wurde und wieder ausgegraben werden musste.

Der Augsburger Deutschlehrer verkraftete so viel Wirklichkeit nicht. Er brachte den Fall vors Schul-Conseil und verlangte die Relegation des unbotmäßigen Schülers. Dem wäre auch stattgegeben worden, hätte sich nicht der Benediktiner Romuald Sauer, der als Französischlehrer an Brechts Gymnasium aushalf, für den Schüler verwendet. Der Pater, Lehrer an der neuerdings wieder durch Missbrauchsvorwürfe namhaft gewordenen Klosterschule bei St. Stephan, rettete den bereits mit einem Schulverweis Vorbestraften vor der unehrenhaften Entlassung, indem er den kessen Aufsatz als Werk eines kriegsverwirrten Hirns ausgab.

Ausbürgerung mit einem Lied begründet

Tatsächlich hatte der Krieg Brecht zu Verstand gebracht. Das Heldentum ließ sich nicht mehr literarisch rechtfertigen, und schließlich war selbst Horaz einsichtiger, als er einmal nicht von Ehre und Opfer sprach, sondern von der "fracta virtus", vom gebrochenen Mut, wie er ihn selber erlebt. Während die Studenten im Schützengraben die Feldausgabe des "Zarathustra" lasen, verblasste auch die berittene Sentimentalität des Cornets Rilke, der sein Pferd an den Rand des k.-u.-k.-Reiches gepeitscht hatte und mitten hinein in die Schar der "heidnischen Hunde".

Erster Weltkrieg
:Wahnsinn Westfront

Bald nach Kriegsbeginn 1914 erstarrte die Westfront. Von der Kanalküste bis zur Schweizer Grenze gruben sich die Deutschen ein, ebenso Franzosen, Briten und deren Verbündete auf der anderen Seite. Was folgte, war ein Novum: Der Einsatz von Giftgas, Panzern und Artillerie tötete Hunderttausende.

Immer mehr Söhne starben, die Mütter durften wieder klagen. Fritz Gehweyer, ein Jahr älter und mit Brecht zusammen Herausgeber der Zeitschrift Die Ernte, fiel am 14. Oktober 1918, dreieinhalb Wochen vor dem Waffenstillstand. Da hatte Brecht die Schule bereits mit einem Notabitur verlassen und diente als Sanitätshelfer. Vom Kriegseinsatz blieb er verschont, dafür schrieb er die "Legende vom toten Soldaten". "Und als der Krieg im vierten Lenz/ Keinen Ausblick auf Frieden bot/Da zog der Soldat seine Konsequenz/Und starb den Heldentod." 1933 begründeten die Nazis mit diesem Lied Brechts Ausbürgerung.

Den "feisten Hofnarren" hat er nie vergessen. In einer anderen Krisenzeit, nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, blätterte der aus der Emigration in die scheinbare Geistesrepublik Ostdeutschland zurückgekehrte Stückeschreiber wieder in den Oden des Dichters, den er als Schüler so flott verspottet hatte. Oft war er seiner "Zufriedenheit" müde, aber der alt und vorzeitig weise gewordene Brecht fand nun Trost "Beim Lesen des Horaz", wie eine der "Buckower Elegien" überschrieben ist. "Selbst die Sintflut/Dauerte nicht ewig./Einmal verrannen/Die schwarzen Gewässer./Freilich, wie wenige/Dauerten länger!" Brecht selber diente zwar nicht als Hofnarr, aber als Regisseur seinem erwählten Regime, doch das ist eine andere Geschichte.

In Frankreich erlebte der englische Kriegsfreiwillige Wilfred Owen 1917 einen Giftgasangriff der Deutschen. Owen fühlte sich zum Helden berufen und wollte einmal in Horaz' Manier den großen Opfergang besingen. In einem Gedicht, es ist das heute bekannteste Antikriegsgedicht der englischen Literatur, beschreibt er, was der Krieg anrichtet: "Wenn auch du in erstickenden Träumen/Hinter dem Wagen liefest, in den wir ihn geworfen haben,/Und in seinem Gesicht die rollenden Augen sähest,/ Sein hängendes Gesicht, wie das eines Teufels, der der Sünde müde ist;/Wenn du hören könntest, wie das Blut mit jedem Stoß/Aus seinen schaumverstopften Lungen gurgelt,/Ekelerregend wie Krebs, bitter wie Wiedergekäutes/Von widerwärtigen, unheilbaren Geschwüren auf unschuldigen Zungen,/Mein Freund, du erzähltest nicht mit so großem Eifer/Kindern, die sich nach verzweifeltem Ruhm sehnen,/Die alte Lüge: Dulce et decorum est,/pro patria mori."

"The old lie", nennt Owen den heldischen Spruch des Horaz, denn was soll süß daran sein, vom Chlorgas zerfressen zu werden, oder ehrenvoll? Der Soldat Wilfred Owen fiel am 4. November 1918. Wie es heißt, läuteten die Glocken in der Heimat zum Waffenstillstand, als die Todesnachricht seine Mutter erreichte. Posthum wurde ihm der für Kriegshelden vorgesehene Orden verliehen.

© SZ vom 28.03.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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