Poetikvorlesungen:Sie pfeift

In den vergangenen Monaten hielt die Schriftstellerin Ulrike Draesner in Frankfurt am Main Poetikvorlesungen. Sie suchte dabei nach einer "Grammatik der Gespenster" - und überzeugte als Dichterin des Verwandelns und Übersetzens.

Von Volker Breidecker

Über "Grammatik der Gespenster" sprach Ulrike Draesner in fünf Frankfurter Poetikvorlesungen dieses Winters. Die Gespenster, darüber ließ die 1962 in München geborene, heute abwechselnd in Oxford und Berlin lebende Schriftstellerin keinen Zweifel aufkommen - die Gespenster sind wir selbst, sobald wir als Lesende oder als Schreibende in jene andere, fremde oder fiktive Wirklichkeit eintauchen, die gemeinhin "Literatur" heißt.

"Pararealität" nannte der Schweizer Germanist und Schriftsteller Hermann Burger dieses Zwischenreich oder Grenzgebiet zweier Welten, an denen Draesner zufolge die Geister zu Hause sind und wo sie herumtollen. Burger war ein früh verstorbener Vorgänger im Amt des Frankfurter Poetikgastdozenten. In seinen Vorlesungen von 1984/85 beklagte er das eigentlich Unmögliche, was jenes Amt seinen zeitweiligen Inhabern abverlange, sei doch der Schriftsteller "ohnehin ein schlechter Diener seines Werks. Warum? Er hat immer vor Augen, was er im Kopf hat, und nicht, was auf dem Papier steht."

Gespenster allerorten. Als Lyrikerin, Übersetzerin, Essayistin, Romanautorin und promovierte Germanistin, die sich darüber hinaus auch noch intensiv mit den neuen Biowissenschaften befasst, ist Ulrike Draesner auf vielen Parketten heimisch und in vielen literarischen Gattungen unterwegs. Solche Vielseitigkeit mobilisiert entsprechend viele Gespenster, die sie letztlich doch irgendwie im Zaume halten muss. Der Ordnung halber stellte Draesner eines der von ihr bedienten Genres in den Mittelpunkt einer jeden Vorlesung, erörterte also nacheinander die Erzählung, den Roman, den Essay, die Lyrik und schließlich die Universalpoetik des Übersetzens schlechthin.

Die Beach Boys hätten das kaum besser gemacht

Von der Absicht geleitet, den herbeigerufenen Gespenstern ein Maximum an Geisterwissen abzugewinnen, ging Draesner gegen alle Ordnungen und Grenzen der Gattungen durch deren gezielte Überwindung und Verwischung an. In wahren Quantensprüngen der Poesie und in sich von Woche zu Woche intensivierenden Geisterstürmen gab sie, unterstützt von bildlichen Darstellungen von allerhand Flora und Fauna, darunter vorzugsweise flugbereitem Federvieh, Anschauungsunterricht in angewandter Poetik.

Mit "Good Vibrations", wie sie auch die Beach Boys nicht virtuoser aufs Parkett hätten bringen können, funktionierte dieses Spiel am besten im Kernbereich aller Poetik, der Lyrik. Wie ein Gedicht aus Atem und Stimme entsteht, wie lebendige Poesie dem Körper abgelauscht werden kann, demonstrierte Draesner nicht nur am akustischen Material zarter Vogelstimmen und deren Übersetzungen in Lautschrift, sondern besonders schlagend und exemplarisch auch mit einem Video, auf dem die seit ihrer Kindheit mit Taubheit geschlagene britische Perkussionistin und Komponistin Evelyn Glennie überzeugend demonstriert, wie sie mit bloßen Händen und mit dem ganzen Körper hört.

Der Körper und die Natur als "großes Ohr", deren Sprache man nur zu lauschen verstehen müsse? Nein, ganz so esoterisch geht es im Reich der Poesie auch bei Draesner nicht zu. Das Gespenst, das hier zum Zuge kommt, heißt Verwandlung in Kunst und allseitiges Übersetzen, Übersetzen von Körper in Sprache, Übersetzen von einer Sprache in eine andere, metaphorisch gesprochen auch: "Übersetzen" oder "Hinübersetzen" von einer Lebenswelt und einer Seelenlandschaft in die andere.

In ihrer Abschlussvorlesung ließ Draesner dann alles ineinanderfließen: Länder, Völker, Gattungen, Heimaten, Menschen, Tiere, Generationen samt ihren Erfahrungen und erlittenen Traumata. Sie rezitierte Fragmente des Erzählens und aus erdichteten Träumen. Doch da, wo Ulrike Draesner erklärtermaßen "aufbauend" in der Schilderung des gespenstischen Vorgangs der Verwandlung von Wirklichkeit in die Fiktionen der Literatur sein wollte, war sie leider, auch in Stimme und Ton, nur noch erbaulich, als wäre eine Poetikvorlesung so etwas wie ein evangelischer Kirchentag.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: