Poesie:Klang- und Sinnspiele

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Die Berliner Lyrikerin Nadja Küchenmeister. (Foto: Carmen Jaspersen/picture alliance/dpa)

Die Poesie der Berliner Lyrikerin Nadja Küchenmeister wurzelt in Märchenwelten und Erinnerungen. Man muss sich darauf einlassen, doch dann eröffnet sich eine wunderbare Welt der Sprache, die es zu entdecken gilt.

Von Thomas Steinfeld

Sieben Raben, heißt es in einem Märchen der Brüder Grimm, wohnen im Glasberg, am Ende der Welt. Sieben Knaben waren sie gewesen, doch ein in ungerechtem Zorn ausgesprochener Fluch hat sie in krächzende Trauertiere verwandelt, die nun am Ende der Welt zu Hause sind, irgendwo zwischen der sengenden Hitze der Sonne und der bösen Kälte des Mondes. Ihre Schwester aber, das jüngste Kind, wird ausziehen, sie zu retten, ausgerüstet mit einem Ring und einem "Stühlchen". Sie wird den Fluch brechen: "Und sie herzten und küssten einander und zogen fröhlich heim." Die Rückverwandlung hat indessen einen Preis: Das Mädchen muss sich einen Finger abschneiden, weil der Glasberg nur mit einem solchen "Beinchen" zu öffnen ist. Erst der Verlust macht Rückkehr möglich.

"Im Glasberg" heißt der jüngste, dritte Band der Berliner Lyrikerin Nadja Küchenmeister. Er beginnt mit einem gleichnamigen Gedicht, in dem das Märchen gespiegelt wird und das zugleich eine Selbstauskunft zu enthalten scheint, selbst wenn man das lyrische Ich nicht für die Stimme der Dichterin halten sollte: "die sonne ist der Mond / mein auge ein stern unter sternen / mein koffer ein stühlchen / mein herzstück ein ring / ich bin ohne furcht".

Etwas Kindliches, wie es sich auch bei Erwachsenen bei der Lektüre von Märchen einstellen mag, gehört zu diesen Zeilen, und so, wie das kindliche Lesen (oder das kindliche Zuhören) nicht scharf zwischen dem Ich und dem Werk, zwischen Rezeption und Schöpfung unterscheidet, so scheinen auch diese Gedichte zwischen Selbstentäußerung und Betrachtung der äußeren Welt zu changieren. Eines mischt sich mit dem Anderen, die Wahrnehmungen und die Dinge gehen ineinander über, und tatsächlich zu greifen ist am Ende so wenig, dass Nadja Küchenmeister mit konsequenter Kleinschreibung und zuweilen sogar ohne Satzzeichen hinkommt.

Erst nach einiger Zeit öffnen sich die inneren Ohren

In diesem Sinn ist in fast allen Gedichten dieses Band nicht nur ein "Ich" präsent, auch wenn es sich manchmal in einer unpersönlichen Konstruktion versteckt, sondern auch ein "Du". Zwischen diesen beiden offenbar nicht sonderlich festen Instanzen eröffnet sich eine Welt aus Übergangsdingen, die sich manchmal eher auf die eine, manchmal eher auf die andere Seite schlagen. Straßenhunde gehören dazu, Wäscheständer, Blockschokolade. An diesen Dingen, so scheint es, wird nur erst probiert, was es mit einer hart gefügten Welt aus lauter Realitäten auf sich haben mag: "es ist, als hätten deine möbel selbst / entschieden, wo sie stehen möchten / ein verlegenes schweigen aus holz". Zugleich fordert diese Dichtung, eben weil sie dialogisch angelegt ist, dazu auf, sich auf dieses Spiel mit gleichsam lebendigen Bildern einzulassen, die, gelegentlich deutlich erkennbar, der Gegenwart entstammen. Nachdrücklich, aber nicht aufdringlich gehen die Verse dahin, dass man sich eine Weile mit ihnen beschäftigen muss, bevor man sich in den Zwischenwelten zurechtfindet, die hauptsächlich aus Erinnerungen entstanden zu sein scheinen.

Erst nach einiger Zeit öffnen sich die inneren Ohren auch den Klang- und Sinnspielen, die Nadja Küchenmeister in ihren Versen veranstaltet: "lange nicht gesehen, rauperich, dein gesicht / war immer umständlich" lautet eine kleine Rhapsodie aus hellem Vokal und stimmlosem Reibelaut. Und in den Zeilen "ich erinnere mich ans erinnern / noch mehr erinnere ich mich an nichts" steckt eine kleine, böse Pointe. Manchmal gehen solche Verse scharf am Sentimentalen vorbei, manchmal schrammen sie über ein paar existenzalistische Untiefen hinweg, manchmal schnappen sie in einen langen Rhythmus ein, als gehörten sie zu einem Lied. Größere Überraschungen gibt es in diesen Gedichten nicht, kleinere schon häufiger. Stattdessen bezeugen die Verse ein großes Vertrauen nicht nur in den poetischen Ausdruck, nicht nur in literarischen Traditionen (zum Beispiel im Märchen), sondern auch in eine Alltagswelt als Reservoir poetischer Verwandlung. Eingeschlossen darin ist das Wissen um die Unausweichlichkeit des Verlusts, ein Gestalt eines "Beinchens" oder schlimmerer Art: "aber das ist unser abschied, da ist etwas / armseliges, das aus bäumen ruft, vorbei".

Nadja Küchenmeister: Im Glasberg. Gedicht. Schöffling & Co., Frankfurt 2020. 106 Seiten, 20 Euro.

© SZ vom 27.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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