Hans Pleschinskis Paul-Heyse-Roman "Am Götterbaum":Zauber der Absurdität

Paul von Heyse, 1878

Paul Heyse, 1878 aufgenommen im Atelier des Hoffotografen Franz Hanfstaengl.

(Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Vom bayerischen König bekam er ein üppiges Jahresgehalt, und Fontane hielt ihn für einen neuen Goethe: Hans Pleschinski fragt in seinem Roman "Am Götterbaum", warum sich eigentlich niemand mehr an den Schriftsteller Paul Heyse erinnert.

Von Birthe Mühlhoff

Paul Heyse war einer der meistgelesenen Autoren des 19. Jahrhunderts. Der Nachfrage nach seinen Texten entsprach er gern - mit zahlreichen Romanen, Dramen und nicht weniger als 180 Novellen. Theodor Fontane glaubte, das Jahrhundert werde einst nach Heyse benannt werden - Heyse sei ein neuer Goethe. Heute steht selbst in dem Nachwort eines Reclam-Bändchens, dass über einige der Novellen die Zeit hinweggegangen ist. Von Heyses süßlichem Idealismus ist man inzwischen eher peinlich berührt. Umso größer war der Ruhm zu Lebzeiten: Der Literaturnobelpreisträger von 1910 stirbt wohlhabend und hochbetagt gerade noch rechtzeitig, bevor der Erste Weltkrieg ausbricht, das Kino die Imagination erobert und die Welt, in der er vom bayerischen König ein üppiges Jahresgehalt bekommt, ihrem Untergang entgegengeht.

Was bleibt von Heyse? In München eine Stadtvilla in nächster Nähe des Lenbachhauses. Hier verkehrten seinerzeit Literaten und Intellektuelle, Musiker und Verleger. Hier übersetzte Heyse die neue italienische Literatur ins Deutsche und machte das deutsche Publikum mit Dostojewski bekannt. Heute weckt das Haus Begehrlichkeiten bei Immobilieninvestoren. Der fragliche Streit ging im Jahr 2017 durch die Presse.

Über Heyses mangelndes Nachleben hat der Wahlmünchner Hans Pleschinski nun einen keineswegs süßlichen und alles andere als idealistischen Roman vorgelegt. Historische Milieus und Figuren von kulturellem Interesse hat er schon öfter zu Stoffen seiner Romane gemacht. Es ging zum Beispiel in "Königsallee" (2013) um einen denkwürdigen Sommer im Leben von Thomas Mann, in "Brabant" (1995) sticht ein Kulturverein in See, um die Errungenschaften des Abendlandes zu retten, "Wiesenstein" (2018) handelte von Gerhart Hauptmanns letztem Lebensjahr.

In "Am Götterbaum" nun hat die Stadträtin Antonia Silberstein zu einem Ortstermin in der noch bewohnten Paul-Heyse-Villa in der Luisenstraße eingeladen. Wenn es nach ihr ginge, entstünde hier ein groß angelegtes Kulturzentrum mit Wohnungen für Stipendiaten. Lesungen, internationale Tagungen, ein Paul-Heyse-Kulturschein für die neuen Mitbürger aus Syrien und Afghanistan. Die persönlich eher knausrige 63-Jährige steht kurz vor der Pensionierung, mit umso größerem Eifer stürzt sie sich ins Gefecht.

Ein Roman über einen Abend, an dem nichts passiert, kann einem Respekt einflößen

Literarische Expertise soll die Schriftstellerin Ortrud Vandervelt beisteuern, die, wie sie nicht müde wird zu erwähnen, soeben von einer Lesereise durch Sibirien zurückgekehrt ist. Von Heyse hält die zierliche, geschmackvoll gekleidete Frau allerdings nichts. Das in Vandervelts Augen altmodische Gesülze ist mit ihren Vorstellungen von engagierter Literatur nicht zu vereinbaren. Als Dritte im Bunde ist die Bibliothekarin Theres Flößer eingeladen. Sie ist Heyse nicht abgeneigt, aber skeptisch, was die Pläne der Lokalpolitikerin angeht.

Da bis zum Termin noch etwas Zeit ist, schlendern die drei Damen nun also unermüdlich plaudernd vom Rathaus zur Luisenstraße. Professor Bradford stößt hinzu, Heyse-Spezialist aus Erlangen, der überraschend seinen jungen Ehemann Deng Long mitgebracht hat. Da sich auch nach mehrmaligem Klingeln an der Haustür der Villa nichts tut und der titelgebende Götterbaum im Vorgarten verlassen dasteht, zieht das Trüppchen schwadronierend weiter um den Block.

Einen 270 Seiten starken Roman über einen einzigen Abend zu schreiben, an dem noch dazu nichts passiert, ist eine Leistung, vor der man Hochachtung haben muss, wenn sie gelingt. So schildert der israelische Autor David Grossman in seinem 2016 erschienenen Roman "Kommt ein Pferd in die Bar" - von einigen Rückblenden abgesehen - nur einen einzigen Auftritt eines Stand-up-Comedian. Bei der Lektüre von Pleschinskis Roman fragt man sich aber doch, ob man den Abend nicht anderweitig besser verbringen könnte. Und da ist der Leserin nicht geholfen, wenn einige der Protagonisten - die enervierte Schriftstellerin, der zu der Musik aus seinen Kopfhörern wippende Deng Long - das ähnlich sehen.

Hans Pleschinskis Paul-Heyse-Roman "Am Götterbaum": Der Querbau muss einem Anbau weichen: die ehemalige Villa des Schriftstellers Paul Heyse in der Luisenstraße.

Der Querbau muss einem Anbau weichen: die ehemalige Villa des Schriftstellers Paul Heyse in der Luisenstraße.

(Foto: Catherina Hess)

Zwar legt sich über diesen von fünf Fremden gemeinsam verbrachten Abend irgendwann der Zauber der Absurdität, den erste Frühlingsabende tatsächlich an sich haben. Pleschinski erzählt lebendig, wenn auch meist in Hauptsätzen: "Die Torlaternen blieben finster. Die Villa schwieg. Nichts rührte sich." Das Gespräch tröpfelt von Plattitüde zu Plattitüde, beiläufig eingestreut werden Heyse-Zitate und vermeintlich Wissenswertes zur Münchner Innenstadt. Entgegen der landläufigen Meinung seien die Kuppeln der Frauenkirche nicht etwa weiblichen Brüsten nachempfunden, sondern zwei steil aufragenden Penissen.

Nichts bleibt unkommentiert: die für mehr Wohnraum demonstrierenden Geflüchteten, die Smartphone-Besitzer, die auf dem Gehweg miteinander kollidieren, die osteuropäischen Bettler vor den Kirchen, die Gesänge aus dem Kaukasus vor sich hinträllern (vielleicht sind die Karpaten gemeint?). Obsessiv wird alles Fremde abgetastet - schon auf den ersten Seiten verhaken sich die Selfiestangen der asiatischen Touristen ineinander und Besucher aus dem Mittelmeerraum fahren vor Freude über die funktionierenden Rolltreppen der Landeshauptstadt gleich mehrmals rauf und runter.

Das ist nicht "scharf beobachtete Gegenwart", sondern ein Stadtrundgang, bei dem der Autor kulturpessimistische Etiketten auf alles klebt. Dabei ist oft unklar, wer die Beobachtungen überhaupt anstellt. Befindet man sich gerade im Kopf von Silberstein, Vandervelt oder Flößer? Oder handelt es sich um eine Fortsetzung der München-Stadtführung mit anderen Mitteln?

Hans Pleschinskis Paul-Heyse-Roman "Am Götterbaum": Hans Pleschinski: Am Götterbaum. Roman. C.H. Beck, München 2021. 276 Seiten, 23 Euro.

Hans Pleschinski: Am Götterbaum. Roman. C.H. Beck, München 2021. 276 Seiten, 23 Euro.

Die drei geschwätzigen Damen wiederum beschleicht das Gefühl, dass man wegen des Klimawandels heutzutage nicht einmal mehr auf die Jugend eifersüchtig sein könne. Ist das Ganze vielleicht ironisch gemeint? An dem Roman ist womöglich eine Satire über die Gegenwart, das Establishment und die Lokalpolitik verloren gegangen, eine detailverliebte Persiflage auf das bildungsbürgerliche Geplätscher, das er selbst zelebriert. Aber warum ist er nur so unkomisch? Womöglich weil ein Roman, der ohne erkennbare humoristische Absicht die Gegenwart so überspitzt darstellt, einen Verdacht erregt: Dahinter müsse eine überdrehte Weltwahrnehmung stehen, deren Erkenntnisse mit Vorbehalt zu genießen sind.

Das ist schade, weil Pleschinski immerhin das Verdienst zukommt, uns an Paul Heyse erinnert zu haben. Auch wenn schleierhaft bleibt, wozu das für den Roman nötig war. Paul Heyses formvollendetes Verschwinden aus dem kollektiven Gedächtnis hätte zu interessanteren Gedankengängen anregen können als zu dieser Collage aus schadenfrohem Schmunzeln, Originalzitaten und Münchner Sehenswürdigkeiten. Das erträumte Paul-Heyse-Kulturzentrum muss sich die Stadträtin am Ende jedenfalls aus dem Kopf schlagen, was die Sinnlosigkeit des ganzen Unterfangens konzeptionell auf die Spitze treibt. Alle gehen ermattet nach Hause.

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