Süddeutsche Zeitung

"Play" im Kino:Düsteres Spiel

Dieser Film zeigt die Welt, wie sie ist: inklusive Rassismus, Klassenunterschieden und einem Jungen, der in die Hose macht. In Schweden löste er eine Debatte aus. Das ist auch das Mindeste, was ein solches Meisterwerk verdient.

Von Jan Füchtjohann

Heißa hopsa, ging das hoch her: "47 Gründe, warum mich Ruben Östlunds Film 'Play' zum Weinen gebracht hat", verkündete ein Bestsellerautor in Schwedens auflagenstärkster Morgenzeitung. Nummer 6: "weil er mir rassistisch vorkam", Nummer 27: "weil im Kino laut gelacht wurde, als Schwarze einen Weißen 'Affe' nannten." In einer Boulevardzeitung wurde Östlund erst als Urheber neuer Klischees diffamiert, dann aber als "neuer Stern am schwedischen Regie-Himmel" gefeiert.

Was war passiert? Ein junger schwedischer Regisseur hatte seinen Debütfilm über einen Raubüberfall gemacht, bei dem fünf Teenager auf raffinierte Weise kleineren Jungen ihre Smartphones, Portemonnaies und Markenjeans abnahmen. Das Ganze ist beinahe dokumentarisch inszeniert und basiert auf etwa vierzig Fällen, die so oder ähnlich in Göteborg wirklich passiert sind. Heikel wurde die Geschichte durch ihren Subtext: Die Täter sind dunkelhäutig, zwei der Opfer so blond wie Michel aus Lönneberga.

Und schon stand es breit mitten im Kino, das große Unbehagen. Seit Anders Breivik 77 Menschen in Oslo und auf Utøya ermordete und rechtspopulistische Parteien in ganz Skandinavien Wahlerfolge feiern, ist ein bisschen der Lack ab vom sozialdemokratischen Idyll im hohen Norden. Und jetzt das: ein Film über die rassistische Urangst schlechthin: blonde Unschuld, verfolgt von bösen schwarzen Männern.

Doch so einfach ist es natürlich nicht. "Play" ist gerade deshalb so phantastisch, weil sich der Film zwischen alle Stühle setzt - und damit mitten in die Nesseln. Ja, der kleine Alex und der kleine Sebastian werden beraubt, von Jungs, die größer, dunkler und in der Überzahl sind. Aber der Dritte im Bunde, John, hat selber eine dunklere Hautfarbe - seine Eltern sind wohl chinesisch. Dennoch gehört er erkennbar zur schwedischen Mittelschicht.

Außerdem geht es nicht nur um einen Überfall, sondern tatsächlich um ein ausgeklügeltes "Spiel". Dabei warten Abdi und seine Freunde im Einkaufszentrum auf ein paar gut erzogene Kids aus der Vorstadt, die die Taschen voll mit Geld von Tanten und Eltern haben, um sich mal "was Schönes" zu kaufen. Sobald Abdi sie nur nach der Uhrzeit fragt, zücken sie ihr teures Smartphone. Und los geht's.

Good Cop, Bad Cop

"Das sieht ja aus wie das Handy, das meinem Bruder letzte Woche gestohlen wurde!", sagt Abdi, der in der Gruppe den "Bad Cop" macht. Er wird wütend, redet über genau gleiche Kratzer auf der Hülle, während die Kleinen immer eingeschüchterter versuchen, ihre Unschuld zu beweisen. Dann springt Kevin als "Good Cop" für sie in die Bresche: "Wir glauben euch ja, aber das müssen wir jetzt klären."

Sehr geschickt schiebt die Gang sich von da an die Bälle zu. Der redegewandte Kevin gibt den Vernünftigen und Verständnisvollen, beruhigt den aufbrausenden Abdi und hält ihn davon ab, die drei einfach zu verprügeln: "Abdi, reg dich ab, schreien bringt uns hier auch nicht weiter. Sie werden uns sicher nicht helfen, wenn du ihnen Angst machst." Doch je mehr Abdi und Kevin unter sich verhandeln, je mehr sie die gemischten Gefühle zwischen "Hilfe, wir werden beraubt!" und "Ist doch gar nicht so schlimm. . ." als Theater inszenieren, desto totaler wird die Macht, die sie über ihre Opfer haben.

Alles, was die Jungen sagen oder fühlen können, hat die Gang schon vorher bedacht. Sie scheint alles zu sehen, alles zu wissen und zu allem imstande zu sein. So wird sie für die Jungen zum Schicksal, gegen das man sich halbherzig auflehnen kann, dessen Weisungen man aber meistens erstaunlich ergeben folgt.

Und so beginnt eine Wanderung, die am Ende den ganzen Tag dauern wird: erst nur um die Ecke, wo angeblich Abdis Bruder wartet, dann immer weiter hinaus aus der Stadt. Jeder Widerstand zerschellt am unüberwindlichen Kraftfeld aus Überredung und Drohung.

So lernt man die Gangsterjungs irgendwann zu bewundern: Mit ihrer Straßenintelligenz sind sie den Wohlstandssöhnchen haushoch überlegen. Ohne ihre Eltern und ohne die Privilegien, die sie von der Wiege an haben, sind die kleinen Schweden völlig hilflos. Sie fügen sich den Stärkeren, und zwar wohl auch deshalb, weil ihnen zuvor noch nie eine Autorität begegnet ist, die nicht nur ihr Bestes wollte.

Das alles sieht man in langen, fast dokumentarisch wirkenden Einstellungen: Aus der Distanz und doch immer mitten drauf, sogar dann, als einer der Jungen sich vor Angst im Gebüsch erleichtert. Oder als ein anderer versucht, sich mit 100 Liegestützen die Freiheit zu erkaufen: Ohne einen einzigen Schnitt sieht man da 10, 20, 30, 40, 50, 60, 70 Liegestütze - und ist danach selbst schweißgebadet.

Endgültig absurd machen den Rassismus-Vorwurf aber die Parallelgeschichten. Zweimal sieht man zum Beispiel eine dieser Flötenbands aus der Fußgängerzone, die sich vor ihren Auftritten mit Federschmuck als Indianer verkleiden. Später, bei McDonald's, sehen sie dann aus wie du und ich. Da geht es offensichtlich um zwei parallele Globalisierungen: um globalisiertes Fastfood, das ist überall gleich, und um globalisierten Ethnokitsch, der ist überall gleich verschieden.

Die zweite Parallelgeschichte handelt von einer Kinderwiege. Sie steht in einer S-Bahn voller Vorort-Pendler, und es ist schon bemerkenswert, was für ein Brimborium die Schaffner veranstalten, weil dieses Ding vielleicht - Gott bewahre! - eine Tür blockieren könnte. Während die entführten Kinder den ganzen Tag keinen einzigen Erwachsenen finden, der ihnen wirklich hilft, gibt es wegen der blöden Wiege eine Durchsage nach der anderen. Als der Schaffner sie endlich aus dem Zug trägt, fällt seiner Kollegin ein: hey, vielleicht verstehen die Besitzer ja gar kein Schwedisch.

Die nächste Durchsage, in einem etwas geradebrechten Englisch, finden die Angestellten auf dem Nachhauseweg dann alle wahnsinnig lustig. Nur die Wiege bleibt, wo sie ist. Die Einwanderer, denen sie gehört, verstehen mittelprächtiges Englisch genauso wenig wie Schwedisch. Außerdem haben sie Angst vor Schaffnern. Auch hier sieht man also wieder zwei Globalisierungen: eine von oben, die Englisch kann und von Unis und Personalabteilungen koordiniert wird; und eine von unten, die nur "unwichtige" Sprachen spricht und über die Einwanderungsbehörden läuft. Beide haben einander nichts zu sagen.

Dieser Film ist also kein Popcorn-Kino. Er zeigt die Welt, wie sie ist: inklusive Rassismus, Klassenunterschieden und einem Jungen, der in die Hose macht. Wer davor lieber die Augen verschließen möchte, sollte weiter deutsches Fernsehen gucken. Für alle anderen gibt es dieses Meisterwerk.

Play, Schweden 2011 - R: Ruben Östlund. Buch: Erik Hemmendorff, Östlund. Kamera: Marius Brandrud. Mit Kevin Vaz,Yannick Diakité, John Ortiz, Sebastian Hegmar. Fugu Films, 118 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 31.01.2013/vks
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