Plattenkabinett:Zu heiß im Tiefkühlfach

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Bilderbuch-Sänger Maurice Ernst im Video zum Song "Machin".

Die sensationelle Band Bilderbuch zeigt, dass Österreicher die besseren Popmusiker sind. Pianist Nils Frahm sammelt perfekte Momente aus zwei Jahren. Und Howe Gelb? Ist Howe Gelb. Neue Musik im "Plattenkabinett", der Musik-Kolumne von SZ.de.

Von Sebastian Gierke

Bilderbuch - Feinste Seide

Österreicher machen bessere Popmusik als Deutsche. Mutige Behauptung, meinen Sie? Ehrlich? Versuchen Sie sich doch mal an einem fundierten Widerspruch! Aber zuerst ein paar Namen: Kreisky, Ja, Panik, Sofa Surfers, Leftboy, Gustav, Das Trojanische Pferd, Radian, Soap&Skin, Attwenger und ja, von mir aus auch Falco, Georg Kreisler und die Erste Allgemeine Verunsicherung. Na, trauen Sie sich noch?

Klar, es gibt auch hierzulande Bands, die wunderbare, weil herausfordernde Popmusik machen. Und zwar nicht nur in Hamburg oder Weilheim. Aber im Vergleich ist die Dichte an guten Bands in Österreich um ein Vielfaches höher.

Woran's aktuell liegt? Vielleicht am besseren Pop-Förderprogramm oder am Radiosender FM4, der mit extrem sicherem Gespür für Geschmack guten Bands eine landesweite Plattform bietet.

Ohne das österreichische Wesen an dieser Stelle ergründen zu können, ist da aber noch mehr, was all diese Bands verbindet. Und das ist gerade wieder exemplarisch zu bestaunen an Bilderbuch, einer bandgewordenen kleinen Sensation.

"Feinste Seide" heißt die EP, die vor gut einem Monat veröffentlicht wurde und jetzt auch in Deutschland immer mehr Fans findet. Oberflächlich betrachtet sind Bilderbuch eine Trittbrettfahrer-Band, die in der Nachfolge von Franz Ferdinand oder Bloc Party versucht, Indiekids das Tanzen beizubringen.

Doch die vier Mittzwanziger aus Wien haben nach zwei Alben (2009 und 2011) mit "Feinste Seide" einen gewaltigen Schritt gemacht. Sie bringen musikalische Brutalität und Disco zusammen, machen jede Unterscheidung zwischen Kunst und Kitsch obsolet.

Es fehlt nicht der sackkratzende Moment. Aber auch nicht der Arme-in-die Luft-Impuls. Es fehlt nicht der Sex, nicht die Überheblichkeit, nicht die Schroffheit und natürlich nicht der Humor. Und, ganz wichtig: Immer ist da dieser Hysterieüberschuss, der Popsongs oft erst ihre Berechtigung gibt. Bilderbuch wissen um die Schönheit eines Umweges, feiern die Intimität genauso wie die Doppeldeutigkeit.

Sie singen "Mein Schwanz ist so lang wie ein Aal", ohne dabei peinlich zu klingen. Sie drehen minimalistisch unterkühlte Videos, die man nicht mehr so schnell vergisst. All die polyphonen dichten Zeichen, die diese Band produziert, lassen sich nicht zu einem einzigen Sinn zusammenfügen, und es ist wie so oft, wenn der Pop so gut ist, wie er es nur selten sein kann: Es fehlen die Worte, um dies zu beschreiben. Diese Musik ist geil, weil sie geil ist. Man muss das hören. Noch besser: Man muss rausgehen auf die Tanzfläche, um es zu erleben. In der Sprache von Bilderbuch heißt das: "Zu viel Hitze im Tiefkühlfach."

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Nils Frahm - Spaces

An der Intelligenz der Popkultur gibt es immer weniger Zweifel. Sie wurde gründlich vom Fluch der Oberflächlichkeit befreit, eine Hierarchie zwischen Hoch- und Popkultur schon lange als eingebildet entlarvt. Nicht nur, weil Pop meist bestens geeignet ist, um unsere Gegenwart adäquat zu beschreiben.

Jetzt, da der alte Ballast abgeworfen ist, lässt sich viel leichter die Zusammenführung wagen. Und der klassisch ausgebildete Pianist Nils Frahm beherrscht sie meisterhaft. Schon seit einigen Jahren erforscht er die Berührungspunkte zwischen Klassik, Pop und Elektronik, zwischen Ambient und Avantgarde.

Für sein siebtes Solo-Album hat der in Berlin lebende Frahm einen besonderen Weg gewählt. Er hat "Spaces" aus über 30 Live-Mitschnitten der vergangenen zwei Jahre montiert. Weil er ein Live-Album machen wollte, aber nicht daran glaubte, ein perfektes Konzert spielen zu können. Die Herausforderung, die er bei der Bearbeitung der Aufnahmen im Studio zu bewältigen hatte, erklärt er dem Magazin Interview: Er habe sich gefragt, ob es möglich ist, Live-Aufnahmen von der Konzertsituation zu trennen, sie aus dem Kontext zu reißen und so zu arrangieren, dass Menschen sie hören können, wann immer sie wollen. "Bei der Arbeit, beim Putzen, beim Abendessen."

Das Album beweist: Es ist sehr gut möglich. Man kann diese Lieder aber auch ganz bewusst hören, mit voller Konzentration. Dann stößt man hin und wieder auf ein Husten aus dem Publikum oder ein Handyklingeln. Man kann den klanglichen Unterschieden der verschiedenen Räume nachspüren, in denen die Aufnahmen entstanden sind. Die Live-Situation unterstreicht das genialische Talent des 31-Jährigen, seine Musikalität, sein Gefühl für Melodien und Stimmungen. Die ätherischen Klavier-Improvisationen erhalten dadurch einen unscheinbaren Rahmen, der bei den schnelleren, perkussiven, elektronischen Stücken fast verschwindet - bis am Ende ein paar Fetzen Applaus aus den Lautsprechern wehen.

  • Wenn dieses Album ein Auto wäre, es wäre ein stylisches Elektroauto.
  • Wer dieses Album hört, geht nicht freiwillig raus.
  • Diesen Künstler müsste Nils Frahm mal covern:​ Lou Reed.

Howe Gelb - The Coincidentalist

Er selbst hat aufgehört zu zählen. Ist es sein 40., sein 50., vielleicht sogar sein 60. Album? Howe Gelb hat seit Mitte der 1980er Jahre eine Menge Musik veröffentlicht. Solo, mit dem Band-Kollektiv Giant Sand, oder als The Band Of Blacky Ranchette. Unter anderem. "The Coincidentalist" ist nach "Dust & Bowl" bereits das zweite Solo-Album im Jahr 2013.

Droht deshalb die große Langeweile? Duke Ellington soll einmal gesagt haben, jeder Mensch trage letztlich nur eine Melodie in sich. Wenn das stimmt, wäre jede neue Komposition eine Interpretation dieser einen Melodie.

Das kann tatsächlich langweilig sein. Siehe Coldplay oder Elbow. Nicht aber bei Howe Gelb. Die Melodie des Singer-Songwriters aus Tucson, Arizona , ist einfach zu gut.

Verändert hat sich in all den Jahren, wie er sie vorträgt. Die Wut scheint verflogen, das Kaputte und Schrammelige. Howe Gelb gibt den Grandseigneur. Seine neuen Songs klingen unaufgeregt, gut abgehangen. Die Haltung des Sängers: eine selbstbewusste Demut. Von der inneren Unruhe seiner frühen Alben ist hier jedenfalls nichts mehr zu spüren. Mehr Folk, Country und Jazz, weniger Indie und Wüsten-Rock. Mehr Rhodes-Piano, Violine oder Pedal Steel, weniger verzerrte Gitarren.

Gelb hat sich vorzügliche Musiker ins Studio geholt, (KT Tunstall, Bonnie 'Prince' Billy, Multi-Instrumentalist Andrew Bird und Sonic-Youth-Drummer Steve Shelley). Und die singen oder spielen seine vorzüglichen Songs, ohne sich aufzudrängen, sehr zurückhaltend, im Sinne des Meisters.

Ach ja, nach einer vorsichtigen SZ.de-Schätzung ist "The Coincidentalist" übrigens Gelbs 21. Solo-Album.

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Finden Sie hier nun alle Platten, die bisher in dieser Rubrik besprochen wurden:

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