Plattenkabinett:Unseren täglichen Bob gebt uns heute

Radio 1's Big Weekend 2011 - Day 2

Gerard Way, Sänger von "My Chemical Romance", 2011 auf dem "Radio1 Big Weekend" in Carlisle, England.

(Foto: Getty Images)

Dylan steht hoch im Kurs: Auf völlig unterschiedlichen Wegen und mit völlig unterschiedlichen Ergebnissen interpretieren My Chemical Romance, Wilko Johnson, Roger Daltrey und schließlich Barb Jungr die ewigen Lieder des Meisters.

Von Bernd Graff

Auf Change.Org gab es eine Online-Petition. 21 566 Menschen plädierten dort vor gut einem Jahr dafür, dass die Band "My Chemical Romance" (MCR) sich nicht sang- und klanglos nach der Auflösung verabschieden, sondern wenigsten noch ein Fare-Well-Abschiedskonzert für die Fans geben solle. "MCR hat mein Leben gerettet. Hätte es sie nicht gegeben, wäre ich nicht mehr. Ich brauche sie wenigstens noch ein mal. L", stand dort etwa in den Kommentaren.

Vorausgegangen war die von den Fans als sehr abrupt und überraschend (und sowieso unnötig und unverständlich) empfundene Ankündigung der Auflösung der da immer noch ziemlich erfolgreichen Band. Das war im März 2013.

MCR stammte ursprünglich aus Belleville, New Jersey. Sie wurde 2001 gegründet, produzierte rasend schnell eine erste Platte. Beachtlich. Richtig durch die Decke ging aber das 2004 herausgebrachte zweite Album "Three Cheers for Sweet Revenge",das MCR weltweit bekannt machte und die "My Chemical Romance Explosion" auslöste: Konzerte waren sofort ausgebucht, Musikzeitschriften aus aller Welt berichteten, sie tourten mit Green Day und The Used, 2007 waren sie für den American Music Award nominiert, 2008 für einen Grammy, dazu verkauften sie ordentlich Merchandise, traten bei MTV auf usw. Überhaupt das übliche Stargehabe: Mit Polizeieskorte zum Gig gefahren werden, um durch die Masse wartender Fans ins Studio zu gelangen, Alkohol-, Drogen-, Sex-Skandale, das Übliche eben.

Der Stil von MCR ist von Morissey, The Smiths und den Sex Pistols beeinflusst. Insgesamt kann man sie dem Alternative Rock zuordnen. Aber bitte nicht Emo, nur, weil Fans und Truppe oft mal was Schwarzes anlegen. 2008 demonstrierte man in London gegen die Zeitung Daily Mail, weil die im Kontext von MCR von einem "sinistren Kult des Emo" geschrieben hatte. Das gab Ärger.

Wenn man einen ersten schnellen Eindruck vom Volumen der Band erhalten möchte, höre/schaue man sich das Video der Cover-Versionen von Dylans "Desolation Row" an. Sie sind so schön punkig gelungen, dass Meister Dylan sich wohl verwundert die Augen gerieben haben dürfte. Hier, live, für "Chimes of Freedom" und hier als Original-Video der Band:

Ansonsten hat die aufgelöste Band gerade jetzt, fast genau ein Jahr nach der Auflösung, ein Best-Of/Greatest-Hits-Album veröffentlicht, das den schönen Titel trägt: "May Death Never Stop You". Und, um die Sache für die Fans so richtig spannend zu machen, ist der erste Song bislang nie veröffentlicht worden. Und der trägt den noch wunderschöneren Titel: "Fake your Death". Mal sehen, vielleicht kommen My Chemical Romance ja doch noch einmal zusammen.

Wenn diese Platte beschrieben werden müsste als Mahlzeit, wäre sie eine Henkersmahlzeit.

Wenn diese Platte eine Waffe wäre, wäre sie eine Steinschleuder.

Wenn diese Platte einer philosophischen Schule entstammte, wäre sie postmodern.

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Wilko Johnson & Roger Daltrey

Kann man Krebs im Endstadium haben und dennoch gute Laune? Fällt schwer, das zusammenzudenken. Die Pub-Rock-Gitarren-Legende Wilko Johnson bringt das aber locker zusammen. Er hat mit Ian Dury & the Blockheads zusammengearbeitet, man kennt ihn als Band-Mitglied von Dr. Feelgood, hier trat er 1975 in Erscheinung, mit den Stranglers und Paul Weller hat er gewirkt, mit Solid Senders, der Wilko Johnson Band natürlich und mit Roger Daltrey von den Who. Mit dem vor allem in letzter Zeit., mit ihm ist das neue Album "Going Back Home" entstanden, das so quirrlig rhythmisch und mit ordentlich Rock-Drive daherkommt, dass deutlich jüngeren Rock`n`Rollern schwindlig werden dürfte.

Im letzten Jahr schockte Wilko Johnson seine Fans mit der Nachricht, dass nicht mehr operierbarer Bauchspeicheldrüsenkrebs bei ihm diagnostiziert worden sei. Er nennt sich heute "sehr lebendig lebendig" und hat absolut kein Problem damit, den Frontmann der Who auf der Bühne fitnessmäßig alt aussehen zu lassen. Auf "Going Back Home" spielen sie Wilko-Johnson-Dr-Feelgood-Klassiker und den Dylan-Song: "Can You Please Crawl Out Your Window?" (hier das Original), alle gesungen von Roger Daltrey, dessen Stimme inzwischen etwas joe-cockerhaft Raues gewonnen hat. Seine Stimme war immer wunderbar akzentuiert, nun hat sie auch etwas Melancholisches hinzugewonnen, das die Lieder facettenreich, voluminös und ungemein melodisch wirken lässt. Diese Lieder aber, da gibt es kein Vertun, bleiben klassischer, kraftvoller R&B, lebensbejahend und, ja, im Grunde optimistisch. Die Platte ist ja auch bei Chess Records erschienen, dem Label von Muddy Waters und Howlin' Wolf.

Wenn diese Platte beschrieben werden müsste als Mahlzeit, wäre sie ein Fruchtsalat.

Wenn diese Platte eine Waffe wäre, wäre sie ein Langbogen.

Wenn diese Platte einer philosophischen Schule entstammte, wäre sie hermeneutisch.

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Barb Jungr

Und noch eine wunderbare, wunderbar gealterte Stimme. Und schon wieder der gute alte Bob, unser aller Dylan. Barb Jungr, Jahrgang 1954, ist eine very very britische Chansonnière reinsten Wassers, sie kann Brecht/Weill singen, Cabaret und Jazz. Ihre Stimme klingt jünger als die von Barbra Streisand, aber mit deren Weltläufigkeit kann sie locker mithalten, auch mit deren Farbspektrum und souveränem Einsatz. Mit anderen Worten: Barb Jungr ist eine Stimmkünstlerin mit einem durchaus eigenen Interpretationsansatz. Und sie interpretiert das American Songbook, die Werke von Großmeistern, dass es eine Art hat. Wer sich beeindrucken lassen möchte, der höre nur ihre merkwürdig ernstgenommene Versionen des Talking Heads-Song "Once in a Lifetime", aber auch das schleppend lyrische "Lay Lady Lay" von Bob Dylan.

Bruce-Springsteen-Songs hat sie bearbeitet und immer wieder die Werke von Bob Dylan, den sie in diesem Video "My Beloved One" nennt, das Video ist als das "Making Of" ihrer neuesten Platte erschienen.

Nun hat sie elf politische Lieder aus den Sechzigern und frühen Siebzigern eingespielt, der Ära des Protestes und des Kalten Krieges. Die Songs von Leonard Cohen, den sie zum ersten Mal interpretiert, sind auch jünger. Und es ist dieses Zusammentreffen von klassischen, stets als männlich begriffenen Folk-Protestsongs und dieser verdammt verjazzten, femininen Interpretation, das Barb Jungrs "Hard Rain" so überraschend und unbedingt hörenswert macht. Zwei beeindruckende Beispiele sind die Dylan-Klassiker "Masters of War" und "It's Alright Ma". Und anders als die manchmal verspielt verrückte Cat Power, eine andere große, allerdings unbedingt nordamerikanische Stimmartistin mit oft falscher Atmung und New York-Kunstgeste, die sich auch schon an Dylan-Songs gemacht hat, arbeitet Barb Jungr hart, man möchte sagen: europäisch daran, noch in jeder Ecke ihrer Interpretation nachvollziehbar und verständlich zu sein. Und damit ist jetzt nicht Artikulation gemeint.

Wenn diese Platte beschrieben werden müsste als Mahlzeit, wäre sie eine Linzer Schnitte.

Wenn diese Platte eine Waffe wäre, wäre sie ein Arsenfläschchen.

Wenn diese Platte einer philosophischen Schule entstammte, wäre sie stoisch.

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Unten finden Sie Platten, die in dieser Rubrik kürzlich besprochen wurden.

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