Süddeutsche Zeitung

Plattenkabinett:Positiv

Zu jeder exzellenten Musikmischung gehören Reggae, düstere Postrocker und wütende Boybands. Können wir gerade nicht mit dienen? Haben wir nicht auf Lager? Doch haben wir. Mit: Wood In Di Fire, The Winchester Club und The Orwells, im "Plattenkabinett", der Musik-Kolumne von SZ.de.

Von Bernd Graff

Es wird ja höchste Zeit, mal auf den deutschen Reggae-Markt zu schauen. Mal sehen, was die einheimischen Rastas da so machen. Da gibt es etwa eine Berliner Formation, seit 14 Jahren gibt es sie schon, die es zu ihren Plattenproduktionen auch gern mal ins Uckermärkische gezogen hat, weil dort die Scheunen zum Aufnehmen billiger zu mieten sind, oder, weil das Wort Uckermark fast so schön klingt wie das Wort Rastafari. Die Band heißt Wood In Di Fire, was jetzt kein Vertipper ist, auch kein Verdreher von "Fire in di Wood". Nein, die heißen wirklich so, und sie sind elf (manchmal auch mehr) Musiker, die sich dem Jamaican Jazz verschrieben haben und wenigstens einmal im Monat (für 5 Euro Eintritt) im Berliner Mitte-Club "Schokoladen" (Ackerstraße 169) auftreten. Hier gibt es zwei Videos von ihren Auftritten dort: Hier und hier.

Gerade haben sie über die Crowdfunding-Plattform Startnext etwas mehr als 2000 Euro für die Finanzierung ihrer neuesten Platte "Upheaval" zusammengebracht. Annonciert als "ein Bandprojekt, bei dem es auf jeden Fall nicht ums Geld geht".

Es ist ihr erstes Rein-Studio-Album, auch daher rührt der Titel, der soviel wie "Umbruch" bedeutet.

Zu dem Crowdfunding ist ein Vorstellungsvideo entstanden, das verschlurfter und verkiffter, geldwurschtiger und ungepflegter daherkommt, als die Band tatsächlich in Wahrheit ist. Klar ist man bei dem Sound sehr, sehr lässig und gechillt, aber das hier ist eine gekonnte Lieferung, eine prima aufeinander abgestimmte, zielstrebig disziplinierte Musik. Fast schon professionell orchestral, wenn diese Bezeichnung in ihrem Metier keine Beleidigung darstellt. Wer also bei Reggae und Rasta immer nun an so etwas wie das hier denkt, sieht sich bei Wood in di Fire gründlich getäuscht: Die Leute sind sehr melodiös, stimmmächtig, die können wirklich was an Schlagzeug, Bass, Gitarre, Keyboard/Orgel, Gesang, Saxophon und Posaune. Selbst, wer Reggae nicht so mag, kann hier mit Gewinn reinhören. DAS ist eine nicht zu unterschätzende Leistung.

"Upheaval" ist noch nicht bei Spotify, aber die Vorgänger-Alben sind zu hören. Man stelle sich also vor, dass die neue Platte noch professioneller gemacht ist, noch weiträumiger im musikalischen Spektrum ist. Hören - oder noch besser: Am 13. Juni ins "Schokoladen"! Dann treten sie dort wieder auf. Rastaman Vibration. Positive!

Wenn diese Platte eine Süßigkeit wäre, wäre sie ein Überraschungsei.

Derjenige, der die Platte empfehlen würde, könnte Paul Breitner sein.

Wäre die Platte eine Bundesliga-Mannschaft, wäre sie: Borussia Mönchengladbach.

Falls Sie die Playlist nicht abspielen können, melden Sie sich bitte bei Spotify an.

Jetzt mal ein Ausflug ins düstere Fach: Die fünf britischen Herrschaften von The Winchester Club sind Meister des gehobenen Gruselns. Sie machen Musik für die Ruinen von Geisterschlössern oder wie die Kapelle auf Unterwelt-Nachen kurz vor der Ankunft. Wobei kurz: Eine außergewöhnlich große Anzahl von Tracks reißt die 10-, manchmal auch die 15-Minuten-Marke. Da bleibt viel Zeit, ein Crescendo für den Cinematic Sound langsam aufzubauen, oder einzelne Töne postrockig zu zelebrieren.

Die Mitglieder der 1999 gegründeten Formation haben ihren Hintergrund zwischen Country-Rock und Heavy Metal, ihre Heimat sind die Hinterhöfe Londons. Das muss absolut kein Nachteil sein, der Musik von Winchester Club tut es definitiv keinen Abbruch. Die Truppe war schon auf Groß-Gigs, so 2009 auf dem Roadburn Festival in Holland. Sie waren auch schon der Supporting Act der US-Formation A Whisper in the Noise.

Ihre jüngste Platte heißt "Negative Liberty", was immer das auch bedeuten mag. Irgendwas mit elegischem Ambiente, Zivilisationsende. Einer ihrer Überfünfzehnminüter führt den Begründer der Antipsychiatrie "R.D. Laing" im Titel. Das ist schon mal ein Hinweis. Sollte Cormac McCarthys Romanverfilmung von "The Road" mal einen neuen Soundtrack benötigen - diese Briten hier stünden bestimmt zur Verfügung.

Wenn diese Platte eine Süßigkeit wäre, wäre sie bitterste Bitterschokolade.

Derjenige, der die Platte empfehlen würde, könnte, falls er noch leben würde, R. D. Laing sein.

Wäre die Platte eine Bundesliga-Mannschaft, wäre sie: der HSV.

Falls Sie die Playlist nicht abspielen können, melden Sie sich bitte bei Spotify an.

Höchste Zeit also für eine lebendig vorgetragene, pubertäre Boyband-Wut! Der Jugendrockklassiker also. Lange gesucht, hier gefunden: The Orwells bringen zum Vortrag die elf Tracks von "Disgraceland". Das ist das zweite Studioalbum der 2009 in Elmhurst, Illinois gegründeten Formation. Elmhurst liegt westlich von Chicago, offenbar ist da wenig los. Denn die fünf Herren von The Orwells fanden schon vor der High School zueinander, zwei von ihnen sind Vettern, weitere zwei sind Zwillinge und der fünfte schließlich macht diese Rasselbande komplett, die schon im Kindergarten den Mädchen immer die Schnuller in Maggi getaucht hat.

Das ist also alles ganz munter. Die Orwells haben schon mit den Arctic Monkeys gespielt, waren bei Later ... with Jools Holland und im Januar des Jahres 2014 in David Lettermans Late Show. Spektakulär pubertär übrigens, wie sich Sänger Mario Cuomo bei "Who Needs You" hier für die Kameras auf dem Boden räkelt. Letterman forderte da sogar eine Zugabe, die die Kids indes nicht gaben. Das machte dann für sie Lettermans Studio-Band, Bandleader Paul Schaffer räkelte sich dabei ebenso auf dem Boden. Ein Spaß!

Das orwellsche Geschrummel, auch von "Dirty Sheets!", kann man also ganz gut hören. Man riskiert nicht allzu viel, wenn man den jungen Menschen eine ordentliche Zukunft im Buzziness vorhersagt.

Wenn diese Platte eine Süßigkeit wäre, wäre sie ein Magnum-Eis.

Derjenige, der die Platte empfehlen würde, könnte David Letterman sein.

Wäre die Platte eine Bundesliga-Mannschaft, wäre sie: Mainz 05.

Falls Sie die Playlist nicht abspielen können, melden Sie sich bitte bei Spotify an.

Hier finden Sie Platten, die in dieser Rubrik kürzlich besprochen wurden.

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