Plattenkabinett:Mariah Carey besiegt die fliegenden Nashörner

Plattenkabinett: Mariah Carey ist seit Jahren im Zustand des ewigen Comebacks.

Mariah Carey ist seit Jahren im Zustand des ewigen Comebacks.

(Foto: AP)

Als Popstar ist sie überlebensgroß, hatte mehr Nummer-eins-Hits als Elvis. Trotzdem verflüchtigte sich die Diva Mariah Carey immer wieder in irre Eskapaden. Ihr neues Album hat immerhin noch einen irren Titel, doch endlich weniger Perfektionismus. Dieses und andere neue Alben im "Plattenkabinett", der Musik-Kolumne von SZ.de.

Von Sebastian Gierke

Mariah Carey hätte sich keinen besseren Titel für ihr neues Album aussuchen können: "Me. I Am Mariah... The Elusive Chanteuse". Elusive, das ist gar nicht leicht zu übersetzen. Schwer fassbar kann es bedeuten, aber auch unfassbar. Flüchtig. Oder trügerisch.

Es ist der Titel ihres ersten und einzigen Selbstporträts. Im Alter von drei Jahren hat sie sich gemalt, so wie sie sich damals sah. Das kindlich-naive Bild ist auf der Innenseite ihres neuen, ihres elften Albums abgebildet. Auf der Cover-Vorderseite: Wie sie sich heute sieht. Mariah räkelt sich im goldenen Badeanzug, die Hände hinter dem goldenen Haar, geht über goldenes Wasser, gold-bronzene Haut, im Hintergrund der goldene Sonnenuntergang, goldene Wolken.

Beide Bilder zeugen von schwerer Fassbarkeit. Von Flüchtigkeit. Beides zieht sich auch durch Careys Karriere. Mit "Me. I Am Mariah... The Elusive Chanteuse" materialisiert sich die 44-Jährige nach fünf Jahren Pause wieder musikalisch. Ein Comeback. Ist es das sechste? Oder schon das zehnte? Egal. Carey befindet sich seit Jahren im Zustand des ewigen Comebacks. Als Musikerin verflüchtigt sie sich zwischen ihren Alben und Touren. Taucht nur in Klatschspalten der Magazine auf.

Wenn sie sich beispielsweise den weltweiten Bestand an weißen Rosen aufs Hotelzimmer bestellt, dazu 34 schwarze Schafe, die auf weißen Löwen reiten und drei schmetterlingsförmige Nashörner, um mit ihnen eines ihre 20.000 Paar Schuhe, die sie immer mit sich herumträgt, anzuprobieren, einen Nervenzusammenbruch erleidet, ihren Manager anschreit, weil der für den Auftritt beim Geburtstagsfest eines feisten Diktatoren-Sohns nicht mehr Gage herausgehandelt hat und überhaupt: Eines der Nashörner sieht ja gar nicht aus wie ein Schmetterling, sondern tatsächlich nur wie ein total langweiliges, fliegendes Nashorn.

In solchen Phasen ist bei Carey und in ihren Aussagen ein fast existenzielles Gefühl des Ungenügens zu spüren. Ein Gefühl, das (fast) jeder kennt: Dass man sich selber hasst, die eigene Natur, die einen limitiert. Carey wird dann von der Scham darüber überwältigt, so wie nach ihrem legendären Misserfolg als Schauspielerin. Die Scham, die einen auf sich selbst zurückwirft. Auch sie, die Überlebensgroße, die mehr Nummer-eins-Hits hatte als Elvis Presley, erkennt dann ihre Grenzen in der Begegnung mit sich selbst: das Beast als Innenleben der Beauty.

Dann bleibt als einzige Möglichkeit das Comeback, der groß inszenierte Neuanfang. Der aber musikalisch keine Neuerung bringt. Und nach dem alles beim Alten ist. Doch mit "Me. I Am Mariah... The Elusive Chanteuse" hat sich tatsächlich etwas verändert. Plötzlich ist etwas in der Musik zu spüren von dem Gefühl des Ungenügens. Ihre Stimme steht natürlich im Mittelpunkt. Carey schmückt die Songs wie immer mit Blue Notes und unmotivierten Trillern. Doch anders als früher klingt ihre Stimme nicht mehr bis in die höchsten Töne völlig rein und makellos, bis hinauf zum höchsten Gis, über fünf Oktaven hinweg. Damit verschwindet auch manchmal das Angestrengte, das allzu Handwerkliche. Die Sehnsucht, die sie bislang erfolglos zu vermitteln versuchte, bekommt ihre Momente, wenn auch selten. Sie wird damit nicht mehr nur behauptet.

Sie führt damit das vor, was sie Mitte der Neunziger als ihre eigene Emanzipationsgeschichte gestartet hat. Eine schwer zu fassende Sehnsuchtsfigur wollte sie immer sein. Die Hautfarbe wurde für sie zum Konstrukt, zum Mittel zum Zweck. Zu Beginn ihrer Karriere sang Carey weiße Mainstream-Balladen. Nur langsam wandelte sich die Tochter eines Schwarzen und einer Weißen, auch mit Hilfe von Photoshop, dann zur schwarzen Sängerin. Ganz bewusst, wegen des ziemlich zweifelhaften, popästhetischen Konzepts, das damit verbunden wird: die Vorstellung von absoluter Sinnlichkeit. Heute behauptet Carey sogar, nicht mehr an Pop zu glauben: "Ich bin nicht Pop. Ich bin eine R-&-B-Sängerin." Rhythm and Blues habe in der Musik "alles geprägt".

Doch eine Frage bleibt: Woher kannte Mariah Carey als Dreijährige das Wort "elusive"?

Wenn das Album ein Kleidungsstück wäre, dann wäre es: golden, Hauptsache golden.

Wenn das Album eine Reise wäre, dann führte sie nach Barbados.

Dieser Mannschaft drückt das Album bei der WM die Daumen: Brasilien.

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Susanne Blech - Welt verhindern

Der Schwachsinnsquotient ist hoch. Verdammt hoch. Denke ich beim ersten Durchlauf. "Welt verhindern" heißt das Album. Susanne Blech heißt die Band. Kommt aus dem Rhein-Ruhrgebiet. Das Bandprojekt des Düsseldorfers Timon Karl Kaleyta, der die bisherigen drei Alben mit verschiedenen Musikern eingespielt hat.

"Jesus Christus will nichts ändern, sicher ist er Darwinist", wird im Song "Liebe Neue Deutsche Welle" gerappt. Und dann: "Da alles nun zu Ende geht, frag nicht, ob man noch tanzen kann."

Mein Hirn versucht Kontexte herzustellen, eine anthropologische Grundkonstante: Es fragt nach dem Was und dem Warum und dem Wie. Solche Fragen führen, weil die Antworten darauf so verdammt schwer zu finden sind, bei vielen zu Gott. 15 Songs von Susanne Blech führen zu etwas Ähnlichem: Verwirrung. Ist das jetzt zu komplex? Was verstehe ich da nicht?

Zweiter Durchlauf. Es klingt nach Egotronic, nach Deichkind. Elektronischer deutscher Indie-Pop. Cheesy Euro-Dance dazwischengemischt. Eine bekannte musikalische Umgebung. Und je länger man sich in einer solchen Umgebung aufhält, desto schlechter wird die Wahrnehmung. Die Unterschiede verschwimmen. Ich nehme dann weniger wahr, als vorhanden ist, die Welt verliert ihre nicht-funktionalen Eigenschaften, ihre Sinnlosigkeit. Deshalb die Verwirrung beim ersten Durchgang. Irre Dance-Knaller, die was von mir wollen? Was denn bitte? Und warum tanze ich nicht einfach los?

Beim zweiten Mal beginne ich Umrisse wahrzunehmen, abstrakte Formen. Und merke: Gar nichts will das von mir. Die Texte sind aneinandergereihte Parolen, zum Teil zusammenhangslos, zum Teil entstehen die Zusammenhänge nur in meinem Kopf. Und passen damit perfekt zur Musik. Wir können ja mit Musik nur deshalb etwas anfangen, weil das Musikerlebnis nie rein emotional ist. Das wäre viel zu banal. Das Musikerlebnis verbindet über unser Vorstellungsvermögen immer Gefühl und Verstand. "Du mit deiner Jugend, ihr mit Eurem Fleiß, wie oft soll ich lügen, bis ihr es begreift."

Woran ich bei diesen Zeilen denke, das denkt niemand sonst. Ganz sicher. Auch Susanne Blech haben keine Vorstellung davon. Darin liegt ihre Meisterschaft, das wird beim dritten Durchlauf klar, dem noch einige folgen werden. Die Band verzichten auf moralinsauren Konzeptkitsch, aber nicht auf ein Konzept. Das Konzept: Rätsel und Verschwendung. Sie wollen keine Wahrheiten verbreiten, glauben an nichts. Und sind trotzdem politisch. Weil genau darin eine Provokation liegt. Der Trick ist, das behaupten sie ganz dreist, ohne Antworten zu leben. Und jede neue Perspektive auf die Welt bedeutet, dass die Welt veränderbar ist. Damit lässt sich dann auch locker ein Weltherrschaftsanspruch begründen.

Um diesen Anspruch einlösen zu können, haben sich Susanne Blech mit Göttern der Uneigentlichkeit verbündet. Mit dem Rapper Turbo B zum Beispiel, der mit Snap! und "Rhythm Is A Dancer" in den Neuzigern einen Überhit hatte und jetzt rappt: "I'm as serious as cancer when I say: Killer is no dancer." Oder Benjamin von Stuckrad-Barre, den Kaleyta bei den Uneigentlichkeits-Kaspern Joko & Klaas kennenlernte. "Wir werden alle nicht Ernst Jünger. Es fühlt sich an wie Markus Lanz. Und als Belohnung oder schlimmer, nur noch Beamte oder Punks." Diese Zeilen hat Stuckrad-Barre beigesteuert. Und den Text zu "Die Katzen von Beate Zschäpe".

Was Susanne Blech uns vorführen: Die ewige bürgerliche Authentizitätssehnsucht. Unsere Sehnsucht. Und das alles als großen Spaß. Jedenfalls knallt es ordentlich. Die Dialektik von Aufklärung und Unterhaltung wird selten so gut in Musik übersetzt. Im Titelsong findet Susanne Blech dafür sogar die perfekte Formel: "Wir können die Welt verhindern / Den Raum, die Zeit, das Glück." Das ist die ganz große Utopie.

Wäre das Album ein Kleidungsstück, es wäre: ein Fedora-Hut, halb peinlich, halb cool.

Wenn das Album eine Reise wäre, dann führte sie nach Wuppertal.

Dieser Mannschaft drückt das Album bei der WM die Daumen: Kolumbien.

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Hercules & Love Affair - The Feast Of The Broken Heart

Das dritte Album von Hercules & Love Affair. Das dritte Album des New Yorkers Andrew Butler. Butler ist Hercules & Love Affair. Er umgibt sich nur immer wieder mit neuen Gästen, mit neuen meist queeren Sängerinnen und Sängern. Deshalb klingt die Band immer unverwechselbar und gleichzeitig immer frisch. Hercules & Love Affair sind ein sich immer wieder selbst erneuerndes Exzess-Experiment. Zu bestaunen auch auf dem neuen Album "The Feast Of The Broken Heart". Diesmal sind es der umjubelten Crooner John Grant, der in dem Song "I Try To Talk To You" erzählt, wie er HIV-positiv wurde. Dazu Rouge Mary, Gustaph und Krystle Warren.

"The Feast Of The Broken Heart" ist wieder eine Huldigung. Eine Huldigung an Disco und frühen House. Butler wollte ein härteres Album, ein House-lastigeres machen. "I didn't want polite, I wanted aggressive," sagt er selbst. Die Beats sind trockener, abgerissener, effektiver als bei den ersten beiden Alben, sie gemahnen an frühen, minimalistischen Acid-House. Trotzdem finden sich alle Konstanten in Butlers Schaffen wieder: Männerstimmen, Frauenstimmen, Italo Disco, ein bisschen Techno, Elektronika, Pop. Brünftig klingt das. Hechelnd und keuchend.

Butler fühlt sich immer noch dem Geist der schwulen Subkultur verpflichtet. Und diesmal ist die Gay Disco eben ein bisschen ledriger, halluzinogener, dunkler. Tatsächlich ist "The Feast of the Broken Heart" ein Konzeptalbum. Es zeichnet die Dramaturgie der Nacht nach. Der Party. Die Nacht als großes Versprechen - natürlich das Versprechen von Sex. Die Nacht auch als Ort des ganz anderen Lebens. Leben minus Alltag.

Ein so irrsinnig euphorischer Über-Song wie es "Blind" vom ersten Album war, ist allerdings diesmal nicht dabei. Das liegt paradoxerweise daran, dass "The Feast of the Broken Heart" in höchstem Maße mit Energie geladen ist. Doch diese gewaltige Kraft bricht nie auf einmal hervor. Immer nur in Teilen. Zu verästelt sind die Songs gebaut, zu gewitzt die Beats, zu raffiniert die Melodien. Butler produziert Kluges für die Tanzfläche. Funkelnd aber nie billig, jubilierend aber nicht kopflos. Oder: anders als intuitiv. Und von mir kein Wort des Bedauerns.

Wäre das Album ein Kleidungsstück, es wäre ein: Tank Top.

Wenn das Album eine Reise wäre, dann führte sie ins New York vor 40 Jahren.

Dieser Mannschaft drückt das Album bei der WM die Daumen: Costa Rica.

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