Plattenkabinett:Draußen gibt's nur Kännchen

Plattenkabinett SCARLET CHIVES - THE TIMBER WILL

So sieht das Albumcover von "The Timber Will Fall" von Scarlet Chives aus.

(Foto: Screenshot: SZ.de)

Auch wenn vor der Tür alles zu Tode geregelt zu sein scheint, manchmal darf's ein bisschen mehr sein. Die wunderlichen, wunderbaren neuen Alben von Chuck Ragan, Scarlet Chives und Scott H. Biram im "Plattenkabinett", der Musik-Kolumne von SZ.de.

Von Bernd Graff

Wir hören heute mal sehr Authentisches. Die Alben, die wir vorstellen, kommen von Künstlern, die jeder für sich eine sehr persönliche Weise gefunden haben, sich zu artikulieren. Drei Künstler, die in aller Unterschiedlichkeit, jeder für sich, ganz wunderbar sind. Oder anders: Weil es solche Größen wie Chuck Ragan, Scarlet Chives, Scott H. Biram gibt, ist Pop ein unvergleichliches Stück Lebenskultur - dagegen müssen die Dollarkönige aus den Charts nach Hause gehen.

Los geht's mit Chuck Ragan! Der Amerikaner, Jahrgang 1974, hat eine Punkvergangenheit. Kennt sich aber auch aus in Country, Folk, Bluegrass und Shantys. Solche Sachen. Er ist/war Sänger und Gitarrist der Band Hot Water Music aus Florida, einer Band, die sich äußerst experimentell in Seitensträngen um den New Jersey Punk von Gaslight Anthem kümmerte, mit denen Ragan auch des Öfteren auftrat. Überhaupt ist man umtriebig. Hot Water Music löste sich mal (im Guten) auf unbestimmte Zeit auf, man tourte solo und in Restbeständen, kam dann wieder zusammen. Man kommt immer wieder zusammen.

Ragan nahm einige Platten alleine auf, sehr auf Gitarre und seine unverwechselbare rau-gebrochene Männerstimme konzentriert. Außerdem brachte er - ein großes Glück - einige seiner Live-Auftritte auf Platte heraus. Das ist nicht nur deswegen so schön, weil Chuck Ragan wirklich unfassbare Live-Gigs hinbringt, satt abgestimmt mit der guten Laune der absoluten Verzweiflung (oder mit der Verzweiflung absolut guter Laune). Nein, er bringt immer auch ein paar Freunde mit auf die Bühne. Dort formiert sich in diesem Fall mit Dave Hidalgo Jr. von Social Distortion an den Drums, mit Todd Beene von Lucero an der Pedal Steel Guitar, mit Ragans langjährigen Begleitern Jon Gaunt und Joe Ginsberg und schlussendlich mit dem holländischen Songwriter Tim Vantol, Australiens Punkrock-Sänger Josh Mann von Paper Arms und dem Folksänger PJ Bond eine wirklich exotische Band.

Dieses Konzert, es fand im August 2013 in der absoluten Superior-Rock-Metropole Münster statt (von da kommt also nicht nur ein Tatort). Daraus ist eine Doppel-LP entstanden: "Live at Skaters Palace", die tatsächlich nur in winziger, limitierter Auflage in einer Blauen (hier) und in einer Schwarzen Edition (hier) jetzt schon als Sammlerstück gekauft werden kann. Alle anderen können dieses wirklich wunderbare Werk hier hören. Tun Sie sich bitte den Gefallen. Chuck Ragan ist gut für Ihre Gesundheit. Bitte! Neben dem Hot-Water-Music-Oldie "Drag My Body" müssen Sie unbedingt hören: Don't Cry, Bedroll Lullaby, Rotterdam und den irren Rausschmeißer California Buritos.

Wenn diese Platte Schauspieler/in wäre, ... dann wäre sie Liz Taylor.

Wenn diese Platte eine Farbe wäre, ... dann wäre sie glutrot.

Wenn man diese Platte verschenken müsste, dann würde man sie ... am liebsten selber behalten.

Falls Sie die Playlist von "Gold Country" nicht abspielen können, melden Sie sich bitte bei Spotify an.

Dänen lügen nicht

Was wissen wir wirklich über die Dänen? Außer natürlich den Kalauer: "Dänen lügen nicht." Dafür musste man früher einen ausgeben. Aber, im Ernst: Die Scarlet Chives sind so seltsam, so eigen, dass man alle Referenzen wegschmeißen möchte (und muss!), wenn man sich diesem seltsamen Ensemble nähern möchte. Die Scarlet Chives sind Maria Holm-Mortensen (Gesang), Brian Batz (Gitarre), Peter Esben (Bass), Daniel Kolind (Schlagzeug) und Rasmus Lindahl (Keyboards), im März bringen sie ein neues Album raus: "This is Protection".

Davon können wir im Augenblick nur auf dieses merkwürdige Video von "The Timber will Fall" verweisen. Es ist eine Art Hänsel-und-Gretel-Geschichte mit nur Hänseln, einem Hund, der rohe Eingeweide frisst, und zwei jagenden Frauen, die zum orchestral begleiteten, eigentümlichen-eindringlichen Gesang von Maria Holm-Mortensen explizit viel dänische Haut zeigen - soviel, dass Youtube schon einschreiten musste. Unabhängig von aller bildhaften Befremdlichkeit ist das Ensemble sehr gut und mit Gewinn hörbar, auch die bald erscheinende "Protection"-Einspielung (wir konnten sie schon hören) hält, was die öffentlich verfügbaren Songs schon lange versprochen haben (hier bei Soundcloud).

Man fühlt sich an die Schwedin Karin Dreijer Andersson alias Fever Ray alias The Knife alias Röyksopp erinnert, nur expliziter, noch eigener und mit viel weniger Disco. Aber früher war eh' mehr Lametta! Hören!

Wenn diese Platte Schauspielerin wäre, ... dann wäre sie Rooney Mara.

Wenn diese Platte eine Farbe wäre, ... dann wäre sie wutrot.

Wenn man diese Platte verschenken müsste, dann würde man sie ... nicht an seinen Klassenlehrer verschenken.

Kann mal jemand die Hölle aufmachen?

Jetzt ganz schnell nach Austin, Texas! Dort siedelt gerade einer der aufstrebenden Helden des American Blues, Punk, Country und Heavy Metal, der Musiker und Produzent Scott H. Biram, alias Scott Biram alias SHB alias Hiram Biram alias The Dirty Old One Man Band, auch er Jahrgang 1974. Der Mann, von dem so wunderbare Sachen wie "Still Drunk, Still Crazy, Still Blue" und "Raisin' Hell Again" stammen, ein Mann, der persönlich ordentlich durchgerüttelt wurde und nach einem schweren Autounfall schon im Rollstuhl mit Infusionsspritze auf der Bühne saß, dieser Mann also ist echter Vollblutmusiker.

Und das Blut, das im Titel seiner gerade veröffentlichten Platte "Nothing But Blood" auftaucht, sollte man also wörtlich nehmen. Lohnenswert ist es sowieso. Um in den wahren Genuss von SHB's Musik zu kommen, muss man sich vielleicht noch einmal ins Gedächtnis rufen, dass Rock'n'Roll nicht immer schön und sauber sein muss, dass manchmal grausame Kombinationen verschiedener Stils nötig sind, um Neues zu schaffen.

So auch hier: Blues, Country, Hillbilly und wüster Punk formen sich zu einem manchmal befremdlichen Tonfluss, der alles in allem aber eins ist: authentisch, mit klarem, forcierendem, fast schicksalhaftem Beat, der die auch melodiösen Tracks immer weiter fort Richtung Wehmut treibt. Dazu mag die schmeichlerische Stimme Birams definitiv beitragen. Und jetzt endlich weiß man: Draußen gibt's nicht nur Kännchen. Halleluja!

Wenn diese Platte Schauspieler/in wäre, ... dann wäre sie Andrea Sawatzki.

Wenn diese Platte eine Farbe wäre, ... dann wäre sie blutrot.

Wenn man diese Platte verschenken müsste, dann würde man sie ... an Menschen verschenken, die schon mal in Wacken waren.

Falls Sie die Playlist nicht abspielen können, melden Sie sich bitte bei Spotify an. Unten finden Sie Platten, die in dieser Rubrik kürzlich besprochen wurden.

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