Plädoyer gegen "Die Spiele":Sport ist Krieg ohne das Schießen

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Es ist wieder Zeit für die langweiligsten Reden, die man auf diesem Planeten halten kann. Und wenn die endlich vorbei sind, heißt es: "Bühne frei für die völlige Verausgabung der mit Chemie vollgepumpten Profis!". Dafür bekommen die Verausgabtesten auch noch Medaillen. Sicher, man kann das alles überstehen. Aber ohne ärztlichen Beistand ist das eher unwahrscheinlich. Darum: Schafft doch die Olympischen Spiele endlich ab!

BURKHARD MÜLLER

An uns ist der Kelch der Olympischen Spiele ja noch einmal vorübergegangen - der Sektkelch, möchte man sagen, wenn man bedenkt, dass dieser Gesellschaft gleichzeitig das Geld für die Brötchen ihrer nötigsten Aufgaben ausgeht. Aber die Spiele finden natürlich leider trotzdem statt, demnächst in Athen. Und man fragt sich, was, außer einem Mischung aus Trägheit und ineinandergreifenden Partikularinteressen, dieses größte aller Spektakel eigentlich auf den Beinen hält, wo doch selbst die bemannten Mondlandungen, die man im Vergleich damit immer noch als ein fruchtbares Projekt bezeichnen könnte, schon seit längerem eingestellt sind.

Helden der Jahrhundertwende mit Palmzweig und Degen: Aus: "The World's Champions Second Series", hier: Theobaud Bauer, Edwin Bibby, Duncan Ross und Capt J.C. Daly galten 1888 als "All Around Athletes". (Foto: N/A)

Der menschliche Körper ist ein bewunderunsgwürdiges Gebilde. Jede Epoche hat ihn zu verstehen versucht, indem sie ihn in Analogie zur jeweils fortgeschrittensten Technik setzte: Die Aufklärung sah ihn als Uhrwerk, das klassische Industriezeitalter als kybernetische Maschine, die Gegenwart sucht die Parallele zum Computer auf. Der Körper, wie er dreidimensional in der Welt steht und sich in ihr bewegt, ist aber viel mehr - und zugleich viel weniger. Noch die alltäglichsten Motoren übertreffen ihn allesamt an Kraft und linearer Effizienz.

So, wie es heute wenigstens in der nördlichen Hemisphäre zugeht, ist der Körper von dem, wozu er einst da war, dem grob Instrumentalen, weitgehend freigestellt; Säcke heben, große Strecken zurücklegen, Feinde töten, das wird ihm von Kränen, Flugzeugen und MGs abgenommen. Im Zeitalter der universalen Mechanisierung darf man es sagen: Der Körper in seinen vielfachen nervlich-muskulären Verrichtungen und Vermögen ist herrlich nach Maßgabe seiner Schwäche. Eine Sehne oder ein Kreuzband sind fragiler als ein Stahlseil, und eben das schreibt der Bewegung, der sie dienen, die besondere feine Anmut ein. Am ehesten kommt dem endlich frei gewordenen Körper als seine Form des Ausdrucks der Tanz zu. Dem stehen manche Sportarten näher, wie das Turmspringen oder der Basketball in seinen schönsten Augenblicken, andere ferner (alle aber gleich fern, sobald das Moment des Wettbewerbs ins Spiel kommt).

Und ausgerechnet dieses Zeitalter verfällt auf die gottverlassene Idee, die messbare, in einer einzigen Zahl mitzuteilende Leistung zum Maßstab des Menschenleibs zu erheben. Ein Wunder ist es, wie die Bewegungsabfolge des Rennens, ja des bloßen Gehens im Zusammenspiel von Muskeln, Skelett, Nerven, Gleichgewichts- und Gesichtssinn den sich Bewegenden in jedem Sekundenbruchteil an den Abgrund des Sturzes und sicher darüber hinweg trägt. Dass der schnellste Mensch es dabei auf 9,8 Sekunden über 100 Meter bringt, scheint im Vergleich dazu unwichtig. Ja es lenkt das Augenmerk eher auf den Umstand, dass ihn dabei das lahmste Moped von hinten über den Haufen fahren könnte. Die Athleten kommen angereist aus aller Welt, um den Unterschied zwischen 35,7 und 36,1 km/h auszutesten, in Flugzeugen, die leicht die zwanzigfache Geschwindigkeit erreichen. Es ist lächerlich.

Dabei stellt das Laufen noch ein schlichtes Bewegungsmuster dar mit einem klaren Ziel, dem Vorankommen. Die Olympischen Spiele aber sind voll von Disziplinen, die die Fülle menschlicher Beweglichkeit mit den abstrusesten Qualifikationen einschränken. Hürdenlauf, Staffellauf, Hochhüpfen mit und Hochhüpfen ohne Stöckchen, das Schmeißen länglicher, rundlicher oder kantiger Objekte teils mit, teils ohne Henkel zum Anfassen, ein Gewehr abschießen (und nicht etwa einen Flitzebogen), während man zugleich Skier trägt und beileibe keine Rollschuhe - Dutzende sind es, wenn nicht Hunderte. Dass viele davon die dysfunktionalen Überreste veralteter Kriegstechniken darstellen, macht sie kaum sympathischer. Selbst wo das Bewegungsbild etwas runder und ganzheitlicher ausfällt, wie bei der Gymnastik, ist Sorge getragen, dass auch der Schönheitssinn von Pädophilen dabei auf seine Kosten kommt; und wenn die sieghaften Turnerinnen das siebzehnte Lebensjahr erreicht haben, sind Knie und Rückgrat in der Regel ein Schrotthaufen.

Hochleistung und Spezialistentum sind hässliche Zwillingsgeschwister. Wer stemmen kann, kann nicht springen, und wer bravourös 100 Meter läuft, kommt bei 400 Metern außer Puste. Völlig einseitig werden bestimmte Abläufe hochtrainiert, oft bis ins Krankhafte hinein, und Sport ohne Sportverletzung scheint fast wie Kochen ohne Hitze. Der Kampf für den Amateurstatus und gegen das Doping ist im wesentlichen verloren gegangen.

Anders kann es auch gar nicht sein, wenn es allein auf die Hundertstelsekunde ankommt - das schaffen allein mit Chemie vollgepumpte Profis. Den allseits geschmeidig ausgebildeten, schön-gesunden Jünglingen, die das alte Griechenland so gern auf seine Vasen malte, wären die Medaillen von heute unerreichbar. In manchen Sportarten kommen überhaupt nur Freaks zum Zuge; manche, die heute Kugeln stoßen, waren vor hundert Jahren als bärtige Damen gegen Eintritt zu besichtigen. Längst sind die Spitzensportler in viele Haustierrassen zerfallen, die einen züchtet man auf Brust, die anderen auf Keule, und damit haben sie ihren Zweck erfüllt.

Die Sportler leisten Fragwürdiges; aber immerhin, sie leisten etwas. Wenn man ein Bild vom olympischen Betrieb gewinnen will, muss man sich aber auch ansehen, welche Leute ringsherum noch so ihr Wesen treiben. Da sind die Sportfunktionäre, eine Kaste, in der Arroganz und Korruption endemisch ist und die sich von den Leibern der Athleten nährt wie die Bandwürmer; da sind die Sportmediziner, deren ständige Präsenz die Nähe des Spitzensports zur Folter erkennen lässt - man kann die Prozedur überstehen, aber ohne ärztlichen Beistand ist das eher unwahrscheinlich.

Besonders aber drängen sich die Unzugehörigsten von allen ins Bild, die Nationen. Gibt es etwas Privateres, etwas, das in einem engeren Sinn nur dem Individuum gehört, als seine körperliche Beschaffenheit? Es wird niemals gelingen, die Fähigkeit, mit den Ohren zu wackeln, zu vergesellschaften, denn der Eine kann"s, der Andere nicht, hier klafft ein Abgrund. Und trotzdem erzeugen sportliche Großveranstaltungen unweigerlich eine Atmosphäre, in der die Vorstellung völlig plausibel erscheint, dass hier jemand, der mit den Ohren wackelt, dies für Luvonien tue. Millionen hängen an den Fernsehgeräten und feuern ihn an, er siegt, er steigt das Treppchen hinauf, eine Medaille wird ihm umgehängt - und zugleich weht über ihm die Flagge und ertönt die Nationalhymne, muffig und pompös wie alle Nationalhymnen. Er singt mit, es laufen ihm die Tränen übers Gesicht; und was einen allein an der ganzen Szene etwas versöhnlich stimmt, ist, dass er nach der ersten Zeile ¸¸O Luvonien, geliebtes Land des Morgenleuchtens" nicht mehr weiter weiß und sich in Triumph und Dankbarkeit, gut sichtbar in Großaufnahme, die peinliche Verlegenheit mischt.

Es gibt nur eine einzige weitere Situation, wo die Nation den intimen Körper des Einzelnen so rücksichts- und umstandslos einzieht wie beim Hochleistungssport: wenn sie ihre Soldaten in den Krieg schickt. Sport heißt auf allen Ebenen, die über die persönliche Fitness und das beiläufige Kicken im Hof hinausgehen, unbedingt: Kampf. Nur im Sinn des Kampfes ist die Leistung interessant. Dass es ein Wettkampf wäre, dämpft ihn, aber stoppt ihn nicht. Treten zwei Mannschaften an, gewinnt die eine und verliert die andere. Handelt es sich um Einzelkämpfer, gibt es Gold, Silber und Bronze, alle anderen gehen leer aus. ¸¸Dabeisein ist alles" - an dieses heuchlerische olympische Motto glaubt niemand, wahrscheinlich nicht einmal die Bogenschützen aus Bhutan. Wie jeder weiß, ist Siegen alles - wie im Krieg eben. Ernsthafter Sport, sagt George Orwell, hat mit fair play nichts zu tun. Von Orwell stammt auch die Definition, die er nach einem sowjetisch-englischen Fußball-Freundschaftsspiel gab, das in einer Massenschlägerei endete: Sport is war minus the shooting.

Von Orwell wird in den kommenden Wochen wenig zu hören sein, desto mehr vom olympischen Geist, in Wahrheit einem Geist von Hoteliers und Funktionären. In einer bombastischen und albernen Zeremonie wird man die Fackel ins Stadion von Athen trag, es werden dazu mehr Flaggen wehen als bei der UN-Vollversammlung, denn auch Grönland und die amerikanischen Jungferninseln haben je einen Sackhüpfer entsandt, und es werden wieder einmal die langweiligsten Reden dieses Planeten erschallen. Hoffen wir, dass, wenn alles vorbei ist, nicht mehr zu beklagen sein wird als die Routine eines großen Unfugs.

© Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.183, Dienstag, den 10. August 2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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