Plácido Domingo zum 70.:Wie warmer Honig

Das Großartige an ihm ist: Nimmt man alle anderen Jahrhunderttenöre zusammen, zieht das Individuelle ab und addiert den enormen Rest, dann kommt nur einer heraus - Plácido Domingo. Zum 70. Geburtstag eines Unwiderstehlichen.

Jens Malte Fischer

"If I rest, I rust" - man liest das auf Plácido Domingos Homepage ganz ohne Erstaunen. Einen fleißigeren, produktiveren Sänger hat es in der Geschichte des Gesangs nicht gegeben, mit der einzigen Ausnahme Dietrich Fischer-Dieskaus, der ansonsten gänzlich unvergleichbaren Sängererscheinung, der Domingos Statistik im Opernbereich durch seine Lied-Tätigkeit auszugleichen in der Lage ist.

Placido Domingo wird 70

Der Tenor Placido Domingo bei Konzert in Köln (Archiv-Foto von 2004): Domingo wird an diesem Freitag 70 Jahre alt.

(Foto: dapd)

Diejenige Domingos steht für sich: rund 3500 Opernvorstellungen und rund 130 Rollen, das ist in der Operngeschichte gänzlich einmalig und wird es wohl bleiben. Und vielleicht das Erstaunlichste daran ist: Domingo wirkt weder auf der Opernbühne noch abseits von ihr als ein Gehetzter, Getriebener, sondern freundlich-entspannt und das nicht nur als Sänger, sondern auch als Dirigent, Operndirektor, Nachwuchsförderer, überhaupt als personifizierte Gelenkstelle des internationalen Opernbetriebs.

Und er singt nunmehr in einem Alter unangefochten weiter, in dem speziell Tenöre seines Kalibers schon längst aufgegeben haben oder gezwungen wurden, aufzugeben. Eine beneidenswerte Konstitution, eine unirritierbare Technik und ein Nervenkostüm von bemerkenswerter Stabilität sind die Gaben, die er klug verwaltet hat. Selbst eine Operation vor einem Jahr, die keineswegs eine Bagatellsache betraf, hat er in wenigen Wochen weggesteckt wie ein Dreißigjähriger.

Der übliche Karriereüberblick darf in diesem Fall knapp bleiben. 1941 in Madrid geboren als baskisch-katalanisch-aragonesische Mischung, Sohn von Eltern, die als Sänger in der "Zarzuela" tätig waren, einer kaum transferierbaren spanischen Form der Operette, kam Domingo 1948 nach Mexico.

Seine Eltern waren zuvor schon als Mitglieder einer spanischen Zarzuela-Gastspieltruppe nach Mittelamerika gegangen, beschlossen, dort zu bleiben und holten die Kinder nach. In Mexico City sang der junge Plácido bereits Zarzuelas als Bariton, sang dann ebenfalls als Bariton an der Nationaloper der Stadt vor und wurde bei dieser Gelegenheit um eine Tenorarie gebeten, die seine wahre Bestimmung enthüllte. Im Herbst 1959 debütierte er in Mexico City in einer winzigen Rolle in "Rigoletto", in der ersten Hälfte der sechziger Jahre sang er an der Oper von Tel Aviv, 1966 kam er an die New York City Oper, dann schnell nach Europa und 1968 an die Met - alles weitere muss hier nicht aufgezählt werden.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, was Domingo so einzigartig macht.

Der größte Kommunikator

Das Phänomen Domingo, und das kann bei einem Operntenor nicht genug gewürdigt werden, ist auch seine unersättliche Neugier; die Zahl seiner Rollen sagt genug aus. Während die großen Kollegen Alfredo Kraus und Pavarotti mit einem Repertoire auskamen, das sich an zwei, drei Händen abzählen ließ, hat er alles gesungen, was einer Tenorstimme zwischen Mozarts Ottavio, Verdis Otello und Wagners Siegmund überhaupt erreichbar ist - und noch einiges dazu. Er hat seine Popularität dafür eingesetzt, vergessene Opern zu befördern (auf der Bühne oder im Studio), wie Alfanos "Cyrano", Charpentiers "Louise", Massenets "Le Cid",Verdis "Stiffelio" (den er auch schon dirigiert hat, allerdings nicht gleichzeitig, was ihm auch zuzutrauen wäre) und Leoncavallos"I Medici", und er hob noch in letzter Zeit neue Opern aus der Taufe wie Tan Duns "The last Emperor" und Daniel Catáns "Il Postino". Als sei das alles noch nicht genug, debütierte er erst vor kurzem in Händels "Tamerlano".

Unersättliche Neugier

Das sympathische Monument Domingo ist kein Übermensch. Auch er ist nicht unfehlbar, oder in allen Bereichen des Gesangs jeweils der allzeit Weltbeste. Er hat nicht die Register- und Sprachvirtuosität von Nicolai Gedda, nicht die schmerzliche Melancholie des jungen Carreras, nicht die überrumpelnde Höhenattacke Pavarottis, nicht die Nobiltà Bergonzis. Sein Sprachtalent außerhalb des Italienischen und Spanischen ist begrenzt, und für exzeptionelle Rollen wie Otello und Tristan (den letzteren sang er im Studio) fehlt ihm dann doch die Fähigkeit, bestimmte Grenzen der Ausdrucksgewalt zu überschreiten - man muss Jon Vickers (mit seiner sicherlich unattraktiver timbrierten Stimme) in diesen Rollen hören, um zu merken, was Domingo in der letzten Konsequenz, und auf sehr hohem Niveau diskutiert, fehlt.

Diese kleine Einschränkung mag dann doch seinem Naturell geschuldet und außerdem der Tribut dafür sein, das Tenorrepertoire in einer solchen atemberaubenden Breite vertreten zu können. Aber das absolut Großartige an Domingo ist: Nimmt man alles an spezifischem Gewicht anderer Jahrhunderttenöre zusammen, zieht das jeweils ganz Einzigartige und Individuelle ab und addiert den enormen Rest, dann kommt nur einer heraus: Plácido Domingo.

Er ist der kompletteste und universellste aller Tenöre, dazu ausgestattet mit einem Timbre, das einem wie warmer Honig ins Ohr geht und von dort aus weiterfließt. Domingo-Vorstellungen verlässt man als Zuhörer sozusagen mit einer weiten, weichen und geschmeidigen Kehle, was, auch wenn es nicht anhält, ein wunderbarer Effekt ist. Außerdem ist er ein Darsteller von natürlicher Überzeugungskraft. Es gibt von seinen Hunderten Schallplattenaufnahmen und seinen Tausenden Vorstellungen (soweit Berichte dafür vorliegen), keine einzige, wo man sagen musste: Heute hatte Domingo aber einen ganz schwachen Tag. Dieser Sänger ist ebenso unwiderstehlich wie unkopierbar.

Das Timbre glüht

Man sieht ihm sogar nach, wenn er Baritonrollen wie den Simon Boccanegra und den Rigoletto singt, nicht als Bariton, wie er betont, sondern als Domingo. Die Resultate sind nicht völlig überzeugend: auch ein älter werdender Tenor mit von Hause aus dunkler Stimme (deshalb war er nie ein Ritter des hohen C, aber das muss auch gar nicht sein) ist immer noch kein Bariton, auch wenn ihm alle Töne erreichbar sind. Die Tessituren unterscheiden sich, äußerlich nicht so gravierend, aber in der Klangentfaltung und Kraftkonzentration dann doch merklich.

Seine Stimme ist nach wie vor auf schier unglaubliche Weise intakt, das Timbre glüht, die Beweglichkeit hat kaum gelitten, die Kraft ist ungebrochen. Das ist nicht nur eine der schönsten Tenorstimmen, die wir hören konnten und können (diese Tatsache droht manchmal hinter der Bewunderung für seine Statistik zu verschwinden), sondern er ist auch der größte Kommunikator, den es in diesem Fach je gegeben hat.

Plácido Domingo, so sagt er in letzter Zeit häufiger, wird "keinen Tag zu früh, aber auch keinen Tag zu spät" aufhören. Da dieser Tag nach menschlichem Ermessen kommen wird, sind die Liebhaber der Oper und des Gesangs weltweit jetzt schon mal vorauseilend traurig, freuen sich andererseits aber an einem Sänger, dessen Terminkalender weiterhin voll ist, und gratulieren zum 70. Geburtstag.

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