Abenteuerroman:Eine Seerose, die übers Wasser gleitet

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David Morosinotto erzählt die abenteuerliche Geschichte der Piratin Shi Yu im südchinesischen Meer in der Tradition der großen Marital-Arts-Filme.

Von Siggi Seuss

Es hat keinen Sinn, als Langnase zu versuchen, sich auf eigene Faust durchs Dickicht der Handlung zu schlagen, selbst, wenn man die neuesten Navigationsgeräte verfügbar hätte. Das konnte man in Davide Morosinottos hier kürzlich besprochenem Roman, "Die Rebellen von Salento". Aber nun, in "Shi Yu - Die Unbezwingbare", dem mit dem renommierten "Premio Strega Ragazze e Ragazzi" ausgezeichneten historischen Roman aus Fantasie und einem Stück Wirklichkeit, da geht das nicht.

Morosinotto lehnt ihre Geschichte an die der größten Freibeuterin an, die jemals die chinesischen Meere verunsichert hat, der Piratin Ching Shih (1785-1844).

Man würde unweigerlich im Inselgewirr vor der Küste des Südchinesischen Meeres verloren gehen, wenn man sich nicht vertrauensvoll in die Hände des Erzählers und die der Hauptfigur, Shi Yu, begäbe. Erzählt wird - wiederum hervorragend übersetzt von Cornelia Panzacchi - die fiktive Lebensgeschichte von Shi Yu, einer Frau aus ärmsten Verhältnissen, die als Dienstmagd in einer heruntergekommenen Kneipe in Kanton aufwächst, bevor sie als Neunjährige flieht. Morosinotto lehnt ihre Geschichte an die der größten Freibeuterin an, die jemals die chinesischen Meere verunsichert hat, der Piratin Ching Shih (1785-1844). Der Autor spielt in dem 500-Seiten-Roman virtuos mit den Erwartungen, Bildern und Fantasien seines Publikums jeden Alters. So fühlt man sich stets an der Seite der Heldin, als sei man einer ihrer Vertrauten, wie Tanzende Lotosblüte, Himmlischer Steuermann, Blauer Tiger, Kleiner Zorn oder Wandelnder Berg. Ohne eigentlich zu wissen, auf welchem Breiten- und Längengrad man eben an Bord der "Roten Todesbotin" segelt, welch traumhafte Inseln gerade backbords an einem vorüberziehen, die wievielte Dschunke man bereits erfolgreich geentert hat oder wie viele Blessuren von den Kämpfen zurückblieben.

Vor allem wird man durch eine Magie in die Geschichte gezogen, die scheinbar mühelos vin andere Medien übertragen werden kann. . Wer jemals Ang Lees Martial-Arts-Film "Tiger & Dragon" gesehen hat, weiß von der Wirkmächtigkeit magischer Bilderwelten. Man wird staunenden Auges hineingezogen in die Traditionen chinesischer Kampfkunst vor pittoresken Naturkulissen. Als gäbe es nichts Selbstverständlicheres als begnadete Schüler eines begnadeten Meisters, die nach intensivem Studium ihr Chi - ihre Lebenskraft - so auf einen inneren Punkt konzentrieren können, dass nichts mehr unmöglich ist. Im Fall Shi Yu, die im Erwachsenenalter ehrfurchtsvoll "Fliegende Klinge" genannt wird, nennt sich die Kunst "Wushu der Luft und des Wassers": die Kunst, Bäume oder senkrechte Wände hochzulaufen, die Kunst, von der Spitze des Besanmasts mit der Anmut einer Tänzerin übers Meer zu fliegen ("Am Himmel hängender Reiherflügel") und übers Wasser zu laufen ("Seerose, die übers Wasser gleitet"). Das und natürlich die Kunst des Kampfes beherrscht Shi Yu wie im Traum, was das Schicksal natürlich nicht davon abhält, sie auch in tiefstes Leid zu stürzen.

Wer würde an Shi Yus magischer Kunst zweifeln, bei der Selbstverständlichkeit, mit der der großartige Erzähler und Stilist Morosinotto fünfundvierzig Jahre eines Piratinnenlebens Revue passieren lässt? Wer wollte daran zweifeln, dass Shi Yu im roten Brautkleid über strahlend türkisblaue Meere schweben kann? Wer wollte an den Worten eines Meisters zweifeln, der die uralte Botschaft von der Rechtschaffenheit von Piraten in einer Welt der Korruption weiterreicht? Und wer wollte schließlich daran zweifeln, dass sich die Legende vom guten Freibeuter spätestens dann dem Ende zuneigt, wenn der kaiserliche Hof die Vorteile weltweiten Handels erkennt? Auf zum letzten Gefecht! (junge Erwachsene)

Davide Morosinotto: Shi Yu - Die Unbezwingbare. Aus dem Italienischen von Cornelia Panzacchi. Thienemann 2022. 508 Seiten, 20 Euro

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