"Pioneer Works":Stürmisch

"Pioneer Works": In Aufbruchstimmung: Der Künstler Dustin Yellin arbeitet an monumentalen Skulpturen – und betreibt das wegweisende Kulturzentrum „Pioneer Works“.

In Aufbruchstimmung: Der Künstler Dustin Yellin arbeitet an monumentalen Skulpturen – und betreibt das wegweisende Kulturzentrum „Pioneer Works“.

(Foto: wowe)

In einer Fabrikhalle in Brooklyn ist ein Wunderland der Künste und Wissenschaften entstanden. Wer halbwegs an der Gegenwart interessiert ist, will dort sofort einziehen.

Von Andrian Kreye

Für die Menschen von Red Hook, dem alten Hafenviertel am Südwestzipfel von Brooklyn, wo früher die Frachter beladen wurden und heute am Wochenende junge Menschen mit interessanten Tätowierungen auf Kneipentour gehen, ist der Klimawandel schon mühsamer Alltag. Als der Hurrikan Sandy vor sechs Jahren die Wassermassen aus der Upper New York Bay in die Straßen drückte, stand Dustin Yellin das Wasser in seinem Atelier buchstäblich bis zum Hals. Sein Cousin Gabriel Florenz, der mit ihm in der alten Maschinenbaufabrik neben dem Atelier das Kulturzentrum "Pioneer Works" betreibt, sagt: "Bis hierher". Dabei legt er die Hand ungefähr schulterhoch an die Wand der Ausstellungshalle. Auch wenn die Wände ohnehin andauernd neu gestrichen und geschrubbt werden für die Ausstellungen und Kunstmessen, Theaterstücke, Konzerte und Festivals, die hier stattfinden, ahnt man, wie damals die Brühe durch die Halle schwappte.

Der heute 42-jährige Yellin hatte den Gebäudekomplex ein Jahr vor der Flut gekauft und angefangen, das Atelier und das Kulturzentrum einzurichten. Aber inzwischen haben sie selbst den Moder rausgekriegt. An so einem Sommernachmittag riecht es hier nach frischer Farbe, mit der die Trennwände für die nächste Ausstellung bemalt wurden, und nach dem Holz, das im Obergeschoss für die Ateliers der Künstlerresidenzen, die Werkstätten, Studios und Büros verbaut wurde.

Nach dem Hurrikan Sandy weiß hier jeder: Die nächste Flut wird kommen

Drüben im Atelier, das zwei ganze ehemalige Fabrikhallen belegt, zeigt Yellin, wie sie sich auf die nächste Flut vorbereiten. Massive Stahlplattformen stehen in der zweiten Halle, gut vier Meter hoch, auf die er Kunstwerke mit dem Gabelstapler hieven kann, der einsatzbereit unter den Gerüsten steht. Die nächste Flut wird kommen, das ist nur eine Frage der Zeit. Das wissen sie hier im Viertel alle. Unten am Ufer stehen zur Erinnerung die mobilen Flutbarrieren des Katastrophenschutzes, und wer hier bauen oder renovieren will, darf im Erdgeschoss keine Wohnungen mehr einrichten, muss Flutgatter kaufen und sein Haus, wenn möglich, auf Stelzen stellen. Was selbst beim Renovieren gar nicht so abwegig ist, weil die meisten Häuser zwischen den alten Fabrik- und Lagerhallen Holzbuden sind, in denen früher die Dockarbeiter lebten. Nach den Bohemiens zogen in letzter Zeit oft Finanzleute hierher, die können es sich auch leisten, so ein Häuschen mit dem Kran hochzuheben.

Den Gabelstapler braucht Dustin Yellin übrigens nicht nur für den Katastrophenfall. Seine Arbeiten wiegen in der Regel zwischen ein paar Hundert Kilo und mehreren Tonnen. Es handelt sich dabei um ein bis zwei Meter hohe Skulpturen, die aus verleimten Kunstharzplatten bestehen, zwischen die er mit einem Team winzige Papierstücke zu mannshohen Figuren oder monumentalen Fantasielandschaften anordnet. Monatelang schneiden seine Zuarbeiter dafür aus Büchern und Zeitschriften die Elemente aus, die dann das Bild ergeben. Figuren, Tiere, Pflanzen, Maschinen, topografische Bruchstücke. Das ergibt dann einen dreidimensionalen Guckkasteneffekt, bei dem sich der Blick lange in den Wimmelbildern verliert.

Die Klimakatastrophe beschäftigt ihn in diesen Arbeiten schon länger. Sein letztes Werk "10 Parts" bestand aus zehn Kunstharzblöcken auf Stahlpodesten, die eine Flutkatastrophe bildeten. Derzeit arbeitet er an dem siebenteiligen Monument "The World in Seven Parts", das sich in eine Vergangenheits- und eine Zukunftslandschaft unterteilt. Die Metaphern, die man da in der explosionsartigen Bilderkonstruktion findet, sind nicht besonders subtil. Für die Vergangenheit stehen: Bergarbeiter, Taucher, das Wrack eines Öltankers, ein Kreuz. Für die Zukunft: Astronauten, Roboter, ein Teilchenbeschleuniger, eine Rakete. Aber es geht hier um Überwältigung. Und die funktioniert.

Es ist eine minutiöse, extrem kleinteilige Arbeit, die Yellin seinen Assistenten da abverlangt. Sechs junge Künstler sitzen gerade an großen Arbeitsplatten, lösen mit Scheren die oft nur daumennagelgroßen Papierelemente aus Buchseiten, legen sie in den Ebenen an, was Tage, Wochen dauern kann, bis die nächste Ebene in Produktion geht. Dustin Yellin ist so etwas wie der Regisseur des Projektes, der die großen Linien vorgibt. Sieben Einzelteile à 800 Kilogramm sollen es werden. Die Arbeit ist auf zwei Jahre terminiert, das fertige Werk soll 2,5 Millionen Dollar kosten. Viel verdienen wird er bei dem Aufwand damit nicht.

Seine Arbeit als Künstler ist organisatorisch und buchhalterisch streng von seiner Arbeit als Direktor des Kulturzentrums getrennt. Pioneer Works finanziert sich durch Spenden. Dustin Yellin ist ein unermüdlicher Geldeintreiber. Er treibt sich oft auf Digitalkonferenzen herum, weil man dort reiche Menschen findet, die zwar selten Geld für Kultur ausgeben, aber extrem begeisterungsfähig sind. Dazu kommt sein großer Freundeskreis aus der Zeit, als er noch Partys in Brooklyn veranstaltete. Das ist der Kern der neuen Brooklyn-Elite, die einen guten Teil der gegenwärtigen Pop-, Film- und Literaturstars stellt.

In der Kunstszene ist Yellin allerdings nicht so beliebt. Zum einen, weil viele ihm neiden, dass er an Gelder kommt, die sonst an der Kunst vorbeigehen. Weil er so eine sympathische Nervensäge sein kann, was im höflichen Betrieb der höheren Kunst eher verpönt ist. Aber auch, weil sie seine Monumentalwerke mit den schlichten Botschaften zu kitschig finden.

Wobei man Yellins Kunst von der Arbeit mit den Pioneer Works auch inhaltlich trennen muss. Wegweisender ist sicherlich das Kulturzentrum. Da greift er die Ideen des Blackwell College auf, des "92nd Street Y" und ja, auch der Renaissance, als Wissenschaft, Technik und Kunst noch eine große Wunderkammer für die Zukunftsträume der Menschen waren.

Wer nur halbwegs an der Gegenwart interessiert ist, will hier eigentlich sofort einziehen

Lässt man sich von ihm durch die Pioneer Works führen, taucht man in ein umtriebiges Wunderland der Wissenschaften, Künste und Disziplinen. Im Erdgeschoss ist die große Halle, in der die Ausstellungen stattfinden. Da waren große Namen der Downtown-Kunst zu sehen wie Nan Goldin oder Fab 5 Freddy. Es sind aber vor allem die nicht ganz so Berühmten und die Künstler aus allen Weltgegenden, aus Korea, Japan, Haiti, Italien oder die afrikanische Kunstmesse, die die Akzente setzen. In der Halle gibt es auch die Konzerte, die vom Indie-Rockveteranen Yo La Tengo über die Jazzbassistin Esperanza Spalding bis zum brasilianischen Popstar Tom Ze reichen. Dazu die Tanzaufführungen, Theaterinszenierungen, Performances, und wenn nichts los ist auch mal eine Hochzeit, die dann in den Garten hinausreicht, in dem in einem kleinen Pavillon ein Tonstudio eingerichtet wurde.

Man sollte vielleicht noch den Buchladen um die Ecke erwähnen, in dem man auch die Bücher aus dem eigenen Kleinverlag bekommt und die Zeitschrift Intercourse, die hier produziert wird. Hin und wieder wird auch "Bene's Record Shop" integriert, ein kleiner Gebrauchtplattenladen auf der Van Brunt Street, in dem DJ Richard Nixon Internetradiosendungen mit den Platten produziert, die gerade auf Lager sind. Die eigentliche Kraftzelle der Pioneer Works aber findet man auf der hölzernen Empore ab, wo die kleinen Ateliers der Künstlerresidenzen, des Multimedialabors, die Werkstätten und das Wissenschaftslabor untergebracht sind.

Wenn man nur halbwegs an der Gegenwart interessiert ist, will man hier sofort einziehen. Die Astrophysikerin Janna Levin hat genau das getan. Zumindest tagsüber, und wenn sie nicht gerade an der Columbia-Universität schwarze Löcher oder Chaostheorien erforscht. Sie ist die wissenschaftliche Direktorin hier. Und sie wehrt sich gleich mal gegen den naheliegenden Gedanken, dass man in den Pioneer Works Wissenschaftskunst betreibe. Nein, so einfach mache man sich das nicht. Es gehe Dustin Yellin nicht darum, Musiker zu Künstlern oder Künstler zu Tänzern zu machen. "Wir verstehen die Wissenschaft als eigene Kunst, die genauso an die Öffentlichkeit gehen soll. Mal davon abgesehen, dass wir hier Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, Wissenschaftler zu sein."

Es gibt nicht mehr viele Orte in New York, an denen eine solche Aufbruchstimmung herrscht

An diesem Nachmittag steht ein junger Genforscher am Tresen mit den Laptops. Auf einer Tafel sieht es mit den Formeln und Kurven sehr wissenschaftlich aus. Er arbeitet sehr konkret an einem Forschungsprojekt und mit Janna Levin ganz allgemein daran, dass Gentechnik für die breite Bevölkerung verständlich wird, bevor sie bald schon Alltag ist. Was ein Haufen Brooklyner Schulkinder bei einem Workshop lernte, bei dem die Bio-Hackerin Ellen Jorgensen ihnen beibrachte, mit der Genschere CRISPR zu arbeiten. Ja doch, das kann man inzwischen auch auf einem Laptop in einer alten Fabrikhalle in Red Hook.

Dustin Yellin zerrt weiter. Zum Studio, in dem die Performancekünstler Gerard & Kelly gerade arbeiten. Zum Labor, in dem ein kleines Team Virtual-Reality-Kunst programmiert. Zur Werkstatt, in der die ferngesteuerten Spielzeugboote stehen, die Kinder mit Künstlern für die alljährliche Red Hook Regatta für Modellboote gebastelt haben, die Yellin veranstaltet. Zum Studio für Internetsendungen. Zu den Tischen, an denen Umschläge für neue Bücher designt werden.

Es gibt nicht mehr viele Orte in New York, an denen eine solche Aufbruchsstimmung herrscht. Die meisten sind längst vom Immobilienmarkt vertrieben. Drüben in Manhattan entsteht gerade "The Shed", ein Kulturzentrum, in dem man an jede Zahl, die Dustin Yellin so vermeldet, mindestens eine bis zwei Nullen hängen muss, für das Welt- und Popstars engagiert werden und der irre Architekt Thomas Heatherwick für 200 Millionen Dollar eine 16 Stockwerke hohe, begehbare Skulptur errichtet hat. Aber The Shed ist letztlich nur Schmuckwerk für ein milliardenschweres Immobilienprojekt.

Findet er nicht, dass sie ihm da ein paar Ideen geklaut haben? Dustin Yellin überhört die Frage betont schmunzelnd. Zumindest für den Geldsturm aus dem Norden ist er ja gerüstet. Pioneer Works gehört ihm ja, seine Spender stehen zu ihm. Nein, wenn ihn kein Hurrikan wegspült, sollen hier noch lange Schulkinder Wissenschaft betreiben und unbekannte Künstler aus aller Welt arbeiten. Gleich neben den Hallen, in denen er sich immer kühnere Arbeiten überlegt. Er hat gerade ein neues Monsterprojekt begonnen: "The landfill of time", die Müllkippe der Zeit. Zehn Jahre lang will er Artefakte und Dokumente in Schächten aus Plexiglas sammeln. Schnell noch mal rüber in die Halle. Die ersten stehen da schon.

Pioneer Works, 159 Pioneer Street, Brooklyn, New York. Info: www.pioneerworks.org. Dustin Yellin: Heavy Water, Rizzoli, New York, ca. 35 Euro.

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