Dafür, dass der Raum so gewaltig groß ist, war der Hinweis am Eingang immer erstaunlich klein. "Schaudepot" stand noch bis vor Kurzem in winzigen Versalien neben einer stets verschlossenen Tür aus Milchglas. Was sich dahinter verbarg, war für die Besucher der Neuen Sammlung in der Pinakothek der Moderne in München all die Jahre nicht zu erkennen. Tatsächlich sollte schon zur Eröffnung des Museums im Jahr 2002 im zweiten Untergeschoss im Westflügel ein Schaudepot zu sehen sein. Diverse Gründe verschleppten den Plan von Florian Hufnagl, dem damaligen Direktor der Neuen Sammlung, und irgendwann war der Ort, zumindest für die Öffentlichkeit, mehr Mythos als Realität.
Knapp zwanzig Jahre später ist es so weit: Die hohe Milchglastür wird sich öffnen. Aus dem Schau-, ist mittlerweile ein X-Depot geworden. Wie wichtig es ist, dass sich an der Idee aus den Neunzigerjahren etwas verändert hat, wird sich gleich zeigen, doch zunächst berauscht der erste Blick. Der gut sieben Meter hohe und 600 Quadratmeter große Raum ist bis zur Decke mit Designobjekten bestückt. In schwarzen Industrieregalen stehen die Dinge, und es sind so viele - insgesamt 600 Stück -, dass das Auge wie eine Flipperkugel hin und her schießt.
Etwa zur quietschgelben aufblasbaren Plastikgiraffe links unten. Rüber zur skizzenhaft schlanken schwarzen Karbonliege in der Mitte und hoch zum poppig runden WC in Moosgrün. In der obersten Etage gibt es Stühle aus elegant geschwungenem Bugholz, aus Plastik, Stahl und Korb zu entdecken. Dazwischen futuristische Fahrräder, elegante Faltboote, eine tragbare Badewanne und leuchtend bunte Tankstellen-Logos. Kurz: Das Auge springt zwischen all den Gegenständen, Größen und Materialien fröhlich umher, macht Bezüge, vergleicht, wird angeregt, selbst Assoziationen zu knüpfen.
"Dachboden-Effekt" nennt der stellvertretende Direktor und Kurator Josef Straßer diese Aufforderung ans Auge. Es ist der zentrale Reiz, den all die Schaudepots setzen, die seit den Nullerjahren entstanden sind. Denn was in den Neunzigern noch visionär war - den Besuchern mehr oder minder einen unverstellten Blick ins Depot zu ermöglichen -, fand in den vergangenen Jahren immer mehr Nachahmer. Das Museum für Gestaltung in Zürich, das im Jahr 2014 sein Schaudepot im Toni-Areal eröffnete, und das Vitra Design Museum in Weil am Rhein, das zwei Jahre später folgte, sind nur zwei Beispiele.
Für Angelika Nollert, seit sieben Jahren Direktorin des Designmuseums, ein Grund, das Konzept ihres Vorgängers weiterzuentwickeln. Als eine Art "Landschaftsansicht" beschreibt sie das, was das X-Depot nun bietet. Das passt insofern, weil ein schlanker weißer Stahlsteg tief in den zweigeschossigen Raum führt und sich von dort aus auch Objekte in der Ferne gut studieren lassen. Die kleineren Objekte dagegen sind in lang gezogenen Vitrinen auf dem Steg selbst untergebracht.
"Der Begriff Schaudepot war uns zu passiv", sagt Nollert. Für den Betrachter, dem nur die Aufgabe des Guckens dabei zukomme, aber auch für die Kuratoren. Anders als in den Lagerdepots, wo Größe und Klimazonen entscheiden, wo und wie ein Objekt verwahrt wird, sind es im X-Depot Themen, die vertikal die Exponate in die Regalfächer einordnen. Wobei das Koordinatensystem eher locker gestrickt ist. Mal ist es ein Material - etwa Karbon -, dann eine Designkategorie - wie Sport oder Gaming -, dann ein Zeitstil, manchmal auch schlicht eine Farbe, die die Objekte miteinander verbindet. Über all dem thronen Stühle, ohne die wohl kein Designmuseum dieser Welt auskommt.
Schnell wird klar, wie sich die Auswahl im X-Depot von der im Setzkasten im Eingang des Designmuseums, aber auch von der in der ständigen Sammlung und in Wechselausstellungen unterscheidet: "Es gibt keine Hierarchie, kein Best-of, keine Chronologie und auch keine geografischen Grenzen", sagt Nollert. Auch wenn Entwürfe von großen Namen wie Konstantin Grcic (die Karbonliege), Luigi Colani (das moosgrüne WC) oder Hella Jongerius (ein fast raumhoher Wandteppich) vertreten sind, ist hier vor allem das zu sehen, was zuvor in den Tiefen der 120 000 Objekte umfassenden Sammlung geschlummert hat. Dazu passt, dass der Weg durch die Ausstellung dem Besucher freigestellt wird. Wer nicht auf dem Steg beginnen will, kann unten starten, eine Treppe oder ein Aufzug bringen den Besucher dorthin. Das Berliner Büro Kuehn Malvezzi hat mit seiner Architektur eine gewohnt schlanke, fast grafische Lösung geschaffen, die sensibel mit dem Bau von Stephan Braunfels, dem Münchner Architekten der Pinakothek der Moderne, umgeht.
Tatsächlich kommt der Eingriff so simpel daher, dass erst mit der Zeit seine Stärke klar wird: in der freien assoziativen Blickführung des Besuchers, aber auch in den Möglichkeiten, die er für die Zukunft bietet. Denn vor den Regalen ist ein 200 Quadratmeter großer Raum entstanden, der "den berühmten Diskurs" hinbekommen soll, wie Nollert das formuliert. Workshops und Symposien sollen hier stattfinden und Schulklassen Platz haben, um ans Design herangeführt zu werden. Dass man sich dies, obwohl der Ort unterirdisch liegt, sehr gut vorstellen kann, weil die Raumqualität so angenehm ist, ist viel wert.
Wie alle Museen muss sich die Neue Sammlung der Gegenwart stellen. Die Ansprüche an Designausstellungen sind gewachsen. Sockel und Vitrine sind hart umkämpft. Wie präsentiert man etwas, das eigentlich für den Gebrauch bestimmt ist? Was stellt man aus? Und von wem überhaupt? Design mag nicht so politisch aufgeladen und historisch kontaminiert sein wie Exponate in einer ethnologischen Sammlung, aber neuralgische Punkte gibt es durchaus: Von den 600 ausgewählten Stücken stammen zum Beispiel nur zehn aus der DDR. Dabei besitzt das Münchner Designmuseum mit der Sammlung Höhne die größte Privatsammlung von DDR-Design in Deutschland.
Besser sieht es in der Genderfrage aus. Man habe das X-Depot genutzt, "um zu korrigieren", so Nollert. Bei den Neuerwerbungen für das Depot liegt der Frauenanteil bei etwa 50 Prozent. Von den 600 Objekten sind nun 91 von Frauen gestaltet. In der Dauerausstellung stellt sich das Verhältnis noch anders da. Ähnlich wie in der Architektur dominieren auch in der Gestaltung Männer das Berufsfeld, wenn es in die Sichtbarkeit geht, und das, obwohl seit Längerem genauso viele Frauen wie Männer Design studieren. "Insgesamt sind die Frauen natürlich zu kurz gekommen, aber ich kann nicht alles korrigieren. Spätestens bei Eileen Gray habe ich gar nicht das Geld dazu", sagt die Direktorin der ältesten Designsammlung der Welt.
Umso wichtiger, dass das X-Depot nun Hierarchien aufbricht. In dem, was es zeigt, aber auch darin, wie zugänglich es ist. Barrierefreiheit endet hier nicht beim Einbau eines Aufzugs. Alle Texte gibt es nicht nur auf Deutsch und Englisch, sondern auch in leichter Sprache, die man sich vorlesen lassen kann. Zudem überzeugt das digitale Angebot. Neben Klassischem wie Filmen, Podcasts und Online-Führungen gibt es auch Experimentelleres wie ein "digitales Soundboard", wo Geräusche aus den vergangenen Jahrzehnten zu hören sind, vom Tippen auf einer Schreibmaschine bis hin zum Klang eines Modems. Beides nichts, was jüngeren Generationen noch bekannt sein dürfte. "Das hier ist nicht abgeschlossen", sagt Angelika Nollert. Insofern waren die zwanzig Jahre Verzögerung vielleicht doch nicht nur schlecht.