"Die Kunst, es nicht gewesen zu sein" ist eine moderne Errungenschaft. Alle Großideologien seit der Aufklärung (sie eingeschlossen) verstehen sich auf sie, um selber nicht die Verantwortung übernehmen zu müssen, sobald die Geschichte mal wieder einen anderen Weg nimmt als den geplanten - so die 50 Jahre alte These des Philosophen Odo Marquard. Für die Aufklärer war es die Ständegesellschaft, die dem Eintreten des glücklichen Zeitalters im Weg stand, für die Arbeiterbewegung der Klassenfeind, der sich böswillig vor das "Reich der Freiheit" stellte und die Liberalen konnten jederzeit über die engstirnigen Interventionisten in allen Parteien klagen, wenn eine Wirtschaftskrise sie erneut in Erklärungsnot brachte.
Einen Feind zu haben - dieser Glücksfall befreit davon, für das Misslingen des Menschheitsprojekts angeklagt zu werden, dem man sich "im Namen und Zeichen der Autonomie" verschrieben hat. Schuldig sind immer die anderen. Was aber, wenn schlechterdings kein Feind mehr aufzufinden ist? Wenn wir, die "autonomen Täter der Geschichte", wirklich einsehen müssten, in die ärgste Unfreiheit spaziert zu sein?
Es gibt einen Bruch in der Entwicklung des Liberalismus, den dessen Verehrer und dessen Feinde gerne übersehen
Auf diese Frage will das Buch "Überfluss und Freiheit" des Pariser Philosophen Pierre Charbonnier die richtige Antwort sein. Der 39-Jährige hat in einer Windeseile die akademischen Eliteinstitutionen Frankreichs durchlaufen und steht prominenten Intellektuellen wie Philippe Descola und Bruno Latour nahe. Sein jüngstes Werk, das vor zwei Jahren jenseits des Rheins veröffentlicht wurde und Andrea Hemminger nun ins Deutsche übersetzt hat, ist aber weder eine anthropologische Untersuchung im Stile Descolas noch gehört es dem Genre soziologischer Zeitdiagnosen an wie viele Bücher Latours. Charbonniers "ökologische Geschichte der politischen Ideen" will auch keine Ideengeschichte der Umweltbewegung sein. Sondern - umgekehrt -, die verborgene ökologische Seite unseres politischen Vokabulars hervorkehren: eben den Zusammenhang von "Überfluss und Freiheit".
Im Mittelpunkt des Buches steht das "Paradoxon", dass wir, die wir die "Gestalt der Erde und des Weltklimas" völlig verändert haben, dennoch unfähig sind, "uns dieser Aktivitäten zu bemächtigen, um sie in eine Richtung zu lenken", die sich der "blinden Dynamik von Extraktion und Akkumulation widersetzt". Wir sind, mit Marquard gesprochen, "Täter von Untaten", ohne die Fähigkeit zur Resozialisation.
Der Autor taucht zur Ergründung dieses Widerspruchs tief in die politische Ideengeschichte ein - oder besser: sehr weit. Er hüpft etwas zu gerne zwischen den Gipfeln der Klassiker herum, springt von Hugo Grotius und John Locke zu Adam Smith, Alexis de Tocqueville und Karl Marx und von dort weiter zu Émile Durkheim, ohne sich auf das Geschehen am Boden, auf politische Auseinandersetzungen unterhalb des Kanon-Radars einzulassen. Ein bloßes Luftschloss also? Nein. Der großzügige Rückgriff auf wirtschaftshistorische Kontextualisierung, vor allem aber die Fähigkeit Charbonniers, die gesellschaftlichen Weichenstellungen auf den Punkt zu bringen, die sich in den besprochenen Quellen ausdrücken, machen das Buch dennoch zu einer aufschlussreichen Darstellung jener "materiellen Geschichte der Freiheit", die dem Autor vorschwebt.
Seine wichtigste Beobachtung: Ein Bruch in der Entwicklung des Liberalismus, den dessen Verehrer wie Feinde gerne übersehen. Aus der aufklärerischen Gesamtbewegung ging der Liberalismus seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mit dem Anspruch hervor, die Grenzen der jahrtausendealten Agrargesellschaft in Richtung Überfluss zu verschieben. Wenn einmal die Gewerbeschranken gefallen, die Zünfte und die Monopole abgeschafft, die Feudalfesseln abgestreift sind, so der damalige Glaube, wird sich die natürliche Freiheit des Menschen endlich über jene alte Welt hinaus erheben, in der auf gute Ernten immer schlechte Ernten folgten und jeder Kinderreichtum eine potentielle Hungerkrise bedeutete. Entscheidend aber ist: Dieser Liberalismus entstand ganz überwiegend vor der Industrialisierung. Das Wachstum, das er vor Augen hatte, war, wie Charbonnier anführt, ein "intensives". Es sollte von Arbeitsteilung und Arbeitsproduktivität getrieben werden.
Die Freiheit wird seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Preis der ungehinderten Ausbeutung der Natur erkauft
Schon damals schloss der Liberalismus mit einer bestimmten Vorstellung freien Wirtschaftens einen folgenreichen Pakt. Nur so war es ihm möglich, sich trotz Zensuswahlrecht und Bildungsdünkel zum Vertreter allgemeiner Freiheit und Gleichheit zu erklären - weil erwartet werden durfte, das durch ihn vorbereitete Wachstum mehre das allgemeine Menschenglück. Die Natur, die man nach und nach rationaler und damit ertragreicher zu bestellen lernte, so Charbonnier, war Grundlage dieser Erwartung. Aber die natürliche Unvermehrbarkeit des Bodens erlaubte noch keinen Verschleiß.
Dieser "liberale Pakt" überlebte allerdings seine vorindustrielle Ausgangssituation. Die Zukunftsbezogenheit des Liberalismus, sein Hoffen auf die Selbstentfaltung der Produktivkräfte, hat ihn anfällig dafür gemacht, zur Doktrin einer Welt zu werden, "die nicht die war, in der sie geboren wurde". Zwischen der, vom Autor so benannten, "organischen Aufklärung" und dem "fossilen Liberalismus" liegt ein Bruch, den man als die Umstellung auf ein System "extensiven Wachstums" deuten kann. Unter dem Druck der Demographie und angezogen von uneingelösten Autonomieversprechen erhob er die "Eröffnung materieller Möglichkeiten durch den Zugang zu neuen Energien" zum Programm. Die in der Erde schlummernde Kohle sollte den Freiheitsgewinn beschleunigen. Wald, Wasser, Wiesen und nicht zuletzt die Atmosphäre sollten kostenlose und unbegrenzte Zulieferer der Produzenten werden - der Liberalismus trat eine "Flucht nach vorne" an.
An genau dieser Stelle ist laut Charbonnier das verdrängte ökologische Wagnis unserer modernen Gesellschaft zu verorten. Das allgemeine Ziel Freiheit wird seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Preis der ungehinderten Ausbeutung der Natur erkauft. Erstaunlich unerforscht lässt das Buch dagegen leider wie dieser Übergang ablief. Was genau befähigte den Liberalismus, sich schützend vor ein Industriesystem zu stellen, das seine Emanzipationsrenditen paradoxerweise einer "anderen Art von Abhängigkeit" verdankt, einer beinahe untilgbaren Schuld gegenüber den gestörten Selbstregelungskreisläufen der Natur?
Wie beendet man die Abhängigkeit unserer Freiheit von Naturausbeutung, ohne bei einer Ökodiktatur zu landen?
Entschädigt wird der Leser dagegen mit einer aufmerksamen Rekonstruktion des weiteren Ehelebens nach dieser zweiten Hochzeit von Überfluss und Freiheit. An den Schriften der frühen Sozialisten, anhand von Saint-Simon, Proudhon, Marx und später Durkheim will Charbonnier zeigen, dass sie das Problem zwar wahrgenommen haben - allerdings vorrangig als Spannung zwischen den armen Massen und den reichen Wenigen auslegten. Ihre politische Maxime - "der Überfluss muss vergesellschaftet werden"! - trat also das Erbe der ökologischen Schuld des Liberalismus an, wonach Freiheitsgewinne nur durch Naturausbeutung möglich sind. In den 30 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als diese Maxime zum ersten Mal gesamtgesellschaftlich realisiert wurde und dank Öl und Atom Vollbeschäftigung und Lohnwachstum herrschten, stieg die ökologische Ausweglosigkeit dann zum demokratischen Gemeinbesitz auf.
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Schwerer zu verstehen ist, welchen Ausweg aus dieser selbstverschuldeten Unfreiheit das Buch vorschlägt. Nicht, dass es sich mit dieser Frage nicht aufhalten würde: stattliche 100 Seiten sind ihr gewidmet. Doch der gewundene Stil, der das Buch dominiert und den auch die Übersetzerin leider nicht bereinigen konnte, lässt - und das ist das dritte Manko - die Zielanalyse ausfransen und symbolisch werden. Klar ist, dass Charbonnier die Abhängigkeit unserer Autonomie von Praktiken des planetarischen Selbstmords beenden will, ohne der Versuchung einer antikapitalistischen Ökodiktatur zu erliegen. Die politische Freiheit soll eine echte werden, indem wir unsere ökologische Verstrickung einsehen und wertzuschätzen lernen.
Um dieses Ziel zu erreichen, hofft der Autor auf einen "antiproduktionistischen Sozialismus" und mit ihm - in Analogie zur alten Sozialen Frage und den heutigen postkolonialen Bewegungen - auf die "Mobilisierung eines neuen kollektiven Subjekts, dessen Name und Handlungsmodalitäten in ökologischen Konflikten ausgearbeitet werden". Die Unklarheit der Worte verdeutlicht hier die Verworrenheit der Sache. Man erahnt, was gemeint sein könnte, verliert aber jeden realistischen Anknüpfungspunkt. Das mag die ideengeschichtliche Gesamtleistung des Buches kaum schmälern - aber es veranschaulicht, wie lang, schwierig und vor allem dunkel der Weg ist, der noch vor uns liegt. Es wäre immerhin ein erster Schritt getan, würde man diese Selbstanklageschrift des "autonomen Täters der Geschichte" ganz ohne Feindesdenken zur Verhandlung zulassen.