Pier Paolo Pasolini:Der lange Pass in die Gegenwart

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Hellsichtig: Pier Paolo Pasolini im Jahr 1971. (Foto: imago images/Mary Evans)

Eine Jugend im Faschismus, Leidenschaft für Fußball und politische Hellsichtigkeiten: neue Bücher über Pier Paolo Pasolini.

Von Maike Albath

Ein Sturmlauf, ein langer Pass, das Antäuschen eines Richtungswechsels mit einem Übersteiger, den man in Italien doppio passo nennt, ein bisschen Gedribbel und dann der Schuss aufs Tor - Pier Paolo Pasolini, Linksaußen, ging jedes Mal aufs Ganze. Ob auf einem Feld am Fluss Tagliamento in den friaulischen Sommern seiner Kindheit, auf der Caprara-Wiese in Bologna zu Gymnasialzeiten, auf den Brachen an den ausfransenden römischen Vorstädten im Erwachsenenalter, auf improvisierten Plätzen an Drehorten oder in den unzähligen Stadien zwischen Genua, Neapel, Mailand, Turin und Venedig, wo er mit seiner Mannschaft aus Filmleuten und Musikern, der Nazionale dello spettacolo, Partien für einen guten Zweck austrug, der Fußball gehörte für den Dichter und Regisseur immer dazu. Perfekt durchtrainiert und ohne ein Gramm Fett am Leib kultivierte er Zeit seines Lebens diese Leidenschaft. Und selbst als er in den Jahren vor seiner Ermordung 1975 in Ostia pessimistischer und pessimistischer wurde, spendete ihm das Spiel Augenblicke des Glücks. "Jedes Tor ist Unausweichlichkeit, Geistesblitz, Staunen, Irreversibilität" beschrieb Pasolini seine Faszination und sah im Fußball eine Erkenntnisform und eine Metapher für das Leben.

Valerio Curcio, Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen. Fußball nach Pier Paolo Pasolini. Aus dem Italienischen von Judith Krieg. Edition Converso, Bad Herrenalb, 188 Seiten, 18 Euro. (Foto: N/A)

"Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen" lautet der etwas sperrige Titel eines ebenso erhellenden wie erfrischenden Buches, das der sportbegeisterte junge Literaturwissenschaftler Valerio Curcio dem Fußballerleben von Pier Paolo Pasolini widmet. Vom treuen Fan des FC Bologna über den aktiven Spieler, der sich für die Teilnahme an einem Match seiner Mannschaft sogar von Moskau nach Italien fliegen lässt, bis zum Beobachter, der Partien als sakralen Akt deutet und für eine Zeitung bei einem Spiel des AS Rom einmal ausschließlich über das Publikum schreibt, setzt Curcio in jedem seiner sechs Kapitel einen anderen Akzent. Ein paar Redundanzen und Wiederholungen verzeiht man ihm gerne, denn er eröffnet auch Kennern des Werkes einen anderen Zugang zu Pasolini, der vor hundert Jahren am 5. März 1922 in Bologna geboren wurde. Nur beim Fußball scheinen sich für den kämpferischen Dichter, Romancier und Regisseur sämtliche Widersprüche aufzulösen, nur in der Bewegung und in der totalen Verausgabung kommt er zu sich.

Beim Fußball habe Pasolini sich ungeschützt in sein Kinder-Ich zurückverwandeln können

Seine Tanten hatten das Jugendzimmer des Neffen im friaulischen Casarsa, wo Pier Paolo mit seiner Mutter die Sommerferien verbrachte und später seine erste Stellung als Grundschullehrer antrat, sogar mit rot-blau-gestreifter Tapete ausgekleidet, den Trikotfarben des FC. Valerio Curcio schildert, wie Pasolini für seinen Dokumentarfilm "Gastmahl der Liebe" über das Verhältnis der Italiener zum Eros voller Andacht die Spieler des FC Bologna interviewt. Dass er ausschließlich banale Antworten bekommt, stört ihn nicht, die Szenen werden trotzdem einmontiert. Ein paar Jahre später büxt er von der Frankfurter Buchmesse aus, um für seine Mannschaft in einem Sportfachgeschäft neue Ausrüstungen zu erwerben. Curcios Sportlerporträt mündet in ein Interview mit der 86jährigen Schriftstellerin Dacia Maraini, damals mit Pasolinis brüderlichem Freund Alberto Moravia liiert und vermutlich eine der letzten Zeitzeuginnen. Sie bringt es auf den Punkt: Pasolini habe mit einem rückwärtsgewandten Blick gelebt, und beim Fußball habe er sich ungeschützt in sein Kinder-Ich zurückverwandeln können. Es gibt bei ihm also, so könnte man den Gedanken weiterspinnen, einen starken Drang zur Regression. Dies passt wiederum zu Pasolinis Idealisierung der Marginalisierten: Zuerst waren es die einfachen Bauern des Friaul, später die jungen Männer aus den Vorstädten, die "herrlichen Eigentümer der Nacht", und schließlich die Mittellosen in Afrika oder Indien.

Florian Baranyi, Monika Lustig, Pier Paolo Pasolini. Eine Jugend im Faschismus. Edition Converso, Bad Herrenalb, 128 Seiten, 18 Euro. (Foto: N/A)

Auch der Band "Pier Paolo Pasolini - Eine Jugend im Faschismus" von Monika Lustig und Florian Baranyi trägt zur Differenzierung bei. Ausgangspunkt ist ein oft eher verschwiegener Artikel, den Pasolini anlässlich eines Besuchs als Repräsentant der faschistischen Jugendorganisation GUF im Juni 1942 in Weimar veröffentlichte. Der Zwanzigjährige formuliert hier ein vages Unwohlsein. Er spricht von seinem Stolz auf Italien, fordert aber eine neue "Anti-Tradition", betont die Freiheit der Literatur und verweist verblüffend offen auf die ideologische Verblendung der jungen Deutschen. Im Unterschied zu den Italienern und Spaniern kennten sie kaum aktuelle Autoren und begnügten sich stattdessen mit Propaganda. Während Monika Lustig die Entstehungsgeschichte des Artikels rekonstruiert, hier den Ursprung für Pasolinis allmähliche Politisierung erkennt und den Dichter gegen die aktuelle Vereinnahmung von rechts in Schutz nimmt, erläutert Baranyi den besonderen Charakter des italienischen Faschismus und umreißt Pasolinis Sozialisation.

Gaetano Biccari (Hrsg.), Pier Paolo Pasolini in persona. Gespräche und Selbstzeugnisse. Übersetzt von Martin Hallmannsecker u.a., Wagenbach, Berlin, 205 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Gerade was die letztendlich nicht aufzulösende Ambiguität des Schriftstellers und Regisseurs ausmacht, der in politischer Hinsicht enorme Hellsichtigkeit besaß und schon Anfang der 1960er Jahre die fatale Seite des immer rasanteren Kapitalismus anprangerte und im Konsum eine den Menschen degenerierende Kraft erkannte, lohnt sich die Lektüre des von Gaetano Biccari herausgegebenen Bandes "Pier Paolo Pasolini in persona. Gespräche und Selbstzeugnisse". Zum ersten Mal sind hier zahlreiche Interviews und autobiographische Skizzen im Zusammenhang greifbar. Neben etlichen bekannten Details über seine Kindheit, die enge Bindung an die Mutter Susanna, die konfliktreiche Beziehung zum Vater und die traumatische Erfahrung des Todes seines jüngeren Bruders, der in den aktiven Widerstand gegangen war und von einem anderen Partisanenverbund getötet wurde, kommt Pasolini immer wieder auf bestimmte Überzeugungen zu sprechen. Ein Leitmotiv ist seine fundamentale Ablehnung der Bourgeoisie und des Staates insgesamt. Vor allem der Kult der Vernunft erfülle ihn mit Skepsis, betont er 1967, weil das Unbewusste ausgeschlossen werde. Die protestierenden Studenten seien die Kinder dieser Gesellschaftsklasse und führten einen Bürgerkrieg gegen ihre Väter, während Italien eigentlich eine Revolution brauche. Anders als die Kommunistische Partei vertrat Pasolini also keinen Progressismus. Lebensspendend sei für ihn nur das Religiöse. An diese Überlegungen schließt er nicht nur mit seinem Film "Medea" von 1969 an, sondern auch in weiteren Gesprächen. Lediglich prähistorische Gemeinschaften, wie sie im Kern noch in den Bauernsippen des Südens oder im Lumpenproletariat lebendig seien, bieten einen Gegenentwurf. Medea, die Pasolini von Maria Callas spielen ließ, sei die Heldin einer archaischen, religiösen Sphäre, während Jason für die laizistische, rationale Moderne stehe. Pier Paolo Pasolini ergreift also Partei für die in der Antike verdammte "Barbarin". Bei ihm kommt ihre mythische, in sich geschlossene Welt, inklusive Menschenopfer, viel besser weg als das bereits säkularisierte Korinth.

Macht ist für Pasolini etwas Monströses

Hierzu passt, dass seine Filme und Bücher immer wieder in sakrale Tötungen gipfeln: Nur die Verachtung des Todes erlaubt also ein Vordringen zum Leben. Diese Denkfigur bleibt verstörend. Andererseits, und das ist nicht zu unterschätzen, sieht Pasolini schon damals, wie sehr das Triebhafte und damit Destruktive in unseren modernen Gesellschaften abgespalten wird. Und es ist kein Zufall, dass uns gerade dies seit der Jahrtausendwende wieder massiv einholt. Dem Schriftsteller und Regisseur, der sein Begehren offen auslebt und Geschlechtsverkehr als ein "extrem expressives und vollständiges Zeichensystem" versteht, geht es um die Kraft des Irrationalen. Die Kunst, so formuliert er 1970 in einer Fernsehsendung, sei ein Angriff auf die bürgerliche Rationalität. Und hier kann man eine Qualität Pier Paolo Pasolinis erkennen: Gerade durch seine Sehnsucht nach dem vorgeschichtlichen Mythos, gerade dadurch, dass er sich einem allgemeinen Fortschrittsglauben verwehrt und sich bereits durch seine sexuelle Orientierung als Außenseiter erlebt, verliert er nie das Gespür für Ausgrenzung. Macht ist für ihn etwas Monströses. Und als letztes Mysterienspiel versteht er, wie könnte es anders sein, den Fußball.

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