Picassos "Guernica" wird 70:Der unsichtbare Feind

Das Gemälde "Guernica", Picassos Vision des Leidens, besitzt noch siebzig Jahre nach seiner Entstehung eine ungeheure Strahlkraft. Es wurde über die Jahre zum wirkungsmächtigsten Symbol menschlicher Passion im Bombenhagel.

Holger Liebs

Im Jahr 1944 besucht ein deutscher Soldat Picassos Atelier in der Rue des Grands Augustins in Paris. An der Wand hängt eine Reproduktion von "Guernica". Der Uniformierte fragt den Maler: "Haben Sie das gemacht?". Picassos Antwort: "Nein, Sie!"

Diese Schuldzuweisung, von "Newsweek" überliefert, zeigt den Künstler im Besitz einer Wahrheit, die imstande ist, Diktaturen, Propagandaschlachten und die Grausamkeit des Krieges zu überdauern. Und tatsächlich wurde Pablo Picassos Ereignisbild "Guernica", geschaffen direkt nach der Bombardierung der baskischen Stadt durch Hitlers Legion Condor am 26. April 1937, über die Jahre zum wirkungsmächtigsten Symbol menschlicher Passion im Bombenhagel, das das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Davon zeugt selbst noch die schamhafte Verhüllung der "Guernica"-Kopie bei den Vereinten Nationen in New York, als am 4. Februar 2003 der damalige US-Außenminister Colin Powell dort den zweiten Irak-Krieg legitimierte.

"Guernica" ist kein Propagandafilm

Die bis zum heutigen Tag anhaltende Ausstrahlung des 3,49 mal 7,77 Meter großen, allein in Schwarzweißschattierungen gehaltenen Tableaus gründet auf einem komplexen symbolischen Geflecht. Es ist eben kein Propagandabild, obwohl Picasso im Spanischen Bürgerkrieg den Republikanern nahestand und 1944 in die Kommunistische Partei eintrat. Es fließt kein Blut. Statt dessen legt sich der Terror wie ein Leichentuch über das Bild. Er selbst ist spürbar - alle Bewegung richtet sich gen Himmel, wo der Feind in zuvor nie gekannter Massivität attackiert -, aber er bleibt unsichtbar und abstrakt. Wir sehen nur das Leid seiner Opfer in klaustrophobischer Enge, den Schmerz der Kreatur, den stolzen Minotaurus Spaniens, den Krieger mit zerbrochenem Schwert, weinende Frauen, Feuer. Eine Szene der Verheerung und der Unentrinnbarkeit.

Wie in einem Film, etwa in Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin", sind einzelne Szenen aneinandermontiert zu einem Panorama des Grauens, das sich freilich nie vollends enträtseln lässt, auch wenn die Deutungen Legion sind. Als "Guernica" bei der Weltausstellung 1937 im bescheidenen Pavillon der spanischen Republik mitten zwischen die größenwahnsinnigen Protzbauten der Sowjetunion und der Nazis geriet, schäumte vor allem die deutsche Presse angesichts des schwarzen Gifts, das Picasso im Glanz pompöser Nationalpropaganda ausstreute. "So etwas nennt Rotspanien ,Kunst"', schrieb der Reichsbildberichterstatter, "Klecksereien, vor welchen man vergeblich sucht, ob sie wohl eine Anspielung auf den Bürgerkrieg oder eine Gemüseplatte bedeuten." Die Propagandisten hatten die Anspielung also sehr wohl verstanden.

"Schlachtenszene, die von einer defekten Dampfwalze plattgewalzt wurde"

"Guernica" war als ein Akt des Widerstands gegen Kriegsgräuel entstanden. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch verwandelte sich das Bild zur Vision des Leidens schlechthin, reihte sich ein in eine Tradition der Sinnbilder des Entsetzlichen wie Goyas "Schrecken des Krieges", sein Exekutionsgemälde "El Tres de Mayo 1808" oder Manets "Erschießung Kaiser Maximilians" (1867), Bilder also, auf denen allesamt der Heroismus der Opfer verewigt wird. Von 1939 an hing "Guernica" im Museum of Modern Art in New York; Picasso selbst hatte verfügt, das Bild dürfe erst wieder auf spanischen Boden zurückkehren, wenn Franco abgedankt habe. In der Ära McCarthy verschwanden nach und nach alle Museumshinweise auf die Bombardierung der Baskenstadt, wurde "Guernica" gewissermaßen universalisiert - während die FBI-Akte über das KP-Parteimitglied Picasso 187 Seiten stark war.

Dazu kamen dann erneute Schmähungen wie die des Kritikerpapstes abstrakter amerikanischer Nachkriegsmalerei, Clement Greenberg, der in "Guernica" eine "Schlachtenszene" sah, die "von einer defekten Dampfwalze plattgewalzt" worden wäre. Doch war Picassos Tableau deformierter, kubistisch zerbrochener Formen inmitten der gefälligen Wanddekorationen der Pariser Weltausstellung auch ein Akt künstlerischer Provokation, wie Werner Spies dargelegt hat: "Guernica" war ein radikales Bekenntnis zur Kunst der Moderne in einer Zeit der "retour à l'ordre", der totalitären Anpassung der Kunst.

Erst nach dem Tode Francos, 1981, kehrte "Guernica" aus Manhattan nach Spanien zurück; heute hängt es unverrückbar in der Reina Sofía in Madrid - und die Basken haben das Nachsehen: Noch im Juni 2006 bat das Guggenheim Museum Bilbao um Ausleihe zum 70. Jahrestag der Vernichtung Guernicas (baskisch: "Gernika") - "in Erinnerung an jene, die damals fielen, und zu Ehren des Friedens und der Freiheit, die Picassos Werk rühmt", wie es die baskische Regierung sieht. Doch die spanische Kulturministerin Carmen Calvo legte Veto ein: Das Bild sei durch die vielen Reisen irreparabel beschädigt und dürfe nie mehr ausgeliehen werden. Immerhin: Vor gerade mal drei Jahren durfte "Guernica" noch nach Paris reisen. Es scheint, als sei das Ringen um Picassos epochales Tableau des Leidens noch lange nicht zu Ende.

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