Pianist Dmitry Masleev:Sentiment und Disziplin

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Es sind Kleinigkeiten, die aus seinem Spiel große Kunst machen: Dmitry Masleev, 31 Jahre alt. (Foto: Alikhan Photography)

Der russische Pianist Dmitry Masleev tourt um die Welt und bringt bald seine nächste Platte heraus. Es ist faszinierend, seine künstlerische Entwicklung zu beobachten.

Von Helmut Mauró

Noch bis in die Achtzigerjahre brachte ein erster Preis bei einem der renommierten Klavierwettbewerbe von Moskau, Bozen, Warschau, Brüssel oder im texanischen Fort Worth frühen Ruhm, ein bisschen Geld und vor allem: einen internationalen Karrierestart. Unter den Preisträgern waren Größen wie Friedrich Gulda oder Martha Argerich, Maurizio Pollini und Arturo Benedetti Michelangeli. Alfred Brendel konnte selbst mit einem vierten Platz beim Busoni-Wettbewerb als 18-Jähriger eine Weltkarriere starten. Auch András Schiff landete beim Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb nur auf dem vierten Platz, den ersten belegte Andrei Gavrilov. Das war 1974. Heute hilft dem Musikernachwuchs oft nicht mal mehr das Siegertreppchen; das Renommee der Wettbewerbe ist in den letzten vierzig Jahren stetig gesunken.

Man fand oder vermutete Unregelmäßigkeiten bei der Preisvergabe, Seilschaften unter den Jury-Mitgliedern, Einflussnahme von Geldgebern. Und man sah, wie Pianisten wie Evgeny Kissin durchstarteten, ohne je einen Wettbewerb besucht zu haben. Doch nun scheinen die Musikwettbewerbe allmählich wieder an Bedeutung zu gewinnen. Preisträger wie Daniil Trifonov im Jahr 2011 halfen dabei, und auch die Karriere des ihm folgenden Preisträgers des Tschaikowsky-Wettbewerbes, Dmitry Masleev, nimmt allmählich Fahrt auf. "Für mich ist der Tschaikowsky-Wettbewerb eigentlich der wichtigste unter den weltweit vier bedeutenden Wettbewerben", sagt Masleev. In diesem Jahr tourte er durch Mexiko, Estland, Frankreich, Russland, Spanien, Polen, Schweiz.

So zu spielen ist fast nicht zu lernen - da braucht es viel natürliche Musikalität

Für das deutsche Publikum gab es nur einen exklusiven Abstecher: einen Klavierabend im bayerischen Schloss Elmau. Masleev wirkt auch ein bisschen eingeschüchtert in der noblen Umgebung; der 31-Jährige, der aussieht, als habe er gerade mal die Schule verlassen, ist von Natur aus ein eher zurückhaltend. Seine zierlichen Hände wie auch die übrige Gestalt lassen kaum vermuten, welche Kraft er auf dem Konzertflügel entfalten kann. Wie er vom zart getupften Pianissimo urplötzlich in einen Forte-Rausch verfällt, dessen Wucht erschreckt, zumindest ein bisschen sorgenvoll stimmt. Auf seiner ersten Solo-CD kann man das nachhören: Zunächst der delikateste Scarlatti, insbesondere die d-Moll-Sonate K1 lässt Masleev nicht nur elegant herunterperlen, sondern gibt ihr einen rhythmischen Drive, der nicht nur das barocke Kleinod in glamourösen Schimmer hüllt, sondern ein bisschen auch den Pianisten.

Es ist ein bisschen wie bei der Klaviermusik von Mozart: technisch nicht allzu anspruchsvoll, aber musikalisch enorm fordernd. Das ist fast nicht zu lernen, da muss man viel natürliche Musikalität mitbringen. Dann der Prokofjew-Einbruch, das pianistische Urgewitter, in dem Masleev aber erst richtig aufzublühen scheint. Das sind aber alles keine aufgesetzten Extravaganzen. "Unsere russische Tradition", sagt er, "lehrt uns, sich einem Werk aus dem Blickwinkel des Komponisten und aus dessen zeitlichem Umfeld zu nähern." Auch für sein exklusives Rezital im Luxushotel Schloss Elmau hat er Sergei Prokofjew auf dem Programmzettel, dazu je eine Sonate von Nikolai Mjaskowski und Nikolai Medtner, zwei Nocturnes von Frédéric Chopin und ein Impromptu von dessen Schüler, dem Wunderkind Carl Filtsch.

Die Geschichte um diesen bereits mit fünfzehn Jahren an Tuberkulose verstorbenen genialischen Pianisten und Komponisten gehört sicherlich zu den tragischsten der Musikgeschichte. Masleev spielt das Impromptu von Filtsch mit der ganzen virtuosen Begeisterung und mentalen Disziplin, die der frühreife Komponist aus der Verbindung von Chopin und Liszt gewonnen zu haben scheint. Ein erstaunliches Stück, es scheint auch Masleev nahe zu gehen, der selber eine Geschichte zu erzählen hätte: die Geschichte seiner Mutter, die ihn in seiner Musikbegeisterung schon früh unterstützt hat und ihn schließlich drängte, am renommierten Tschaikowsky-Wettbewerb im fernen Moskau teilzunehmen - er selber hatte viel zu viel Respekt davor. Wenn man in Ulan-Ude geboren und aufgewachsen ist und in Nowosibirsk studiert, hat man vielleicht weniger Ablenkung und mehr Zeit zum Klavierüben als in Moskau, aber so viel Selbstbewusstsein wie die Menschen in der Hauptstadt hat man nicht.

Nachdem Masleev die erste Runde erfolgreich absolviert hatte, geschah das Unerwartete. In zwei Tagen, am 21. Juni, stand die nächste Runde an, alle waren begeistert vom Spiel des jungen Pianisten. Und zu Hause starb die Mutter. Elena Masleeva konnte schon nicht mehr mitkommen nach Moskau, so sehr hatte ihr der Krebs zugesetzt, und jetzt, mitten im Wettbewerbsstress, kam die Nachricht von ihrem Tod. Masleev wollte nichts mehr als nach Hause, wenigstens zur Beerdigung da sein. Die Organisatoren des Wettbewerbs waren entsetzt, die Jury ahnte nichts. Man redete auf den jungen Pianisten ein, aber es half nichts. Erst als man den Vater aus Sibirien herbeirief, änderte der Sohn seine Meinung. Die Mutter hätte nichts sehnlicher gewünscht und geglaubt als den Wettbewerbserfolg des Sohnes - damit konnte der Vater die Sache retten.

Masleev spielte weiter - unter einer Bedingung: Die Jury durfte nicht vom Tod der Mutter erfahren. Er hätte es als Betrug an ihr empfunden, wenn er durch ihren Tod einen Bonus bekommen hätte. Als junger Künstler möchte man keine Almosen, sondern echte Anerkennung. Deshalb ist Können und Disziplin allemal wichtiger als zur Schau gestellte Gefühle. Aber so gut Masleev seine Empfindungen auch im Alltag verbirgt, in der Musik kommen sie doch zutage. Nichtsentimental triefend, eher unterschwellig. Eine minimale Verzögerung hier, ein beherzter Akzent dort - es sind Kleinigkeiten, die sein Spiel so besonders machen. Und es sind nicht die großen romantischen Schlachtrösser wie das Klavierkonzert von Tschaikowsky, in denen er am meisten von sich preisgibt. Gerade in den formal schlichten Sonatinen des Domenico Scarlatti zeigt Masleev, wie man im Kleinen einen ganzen Seelenkosmos aufspannen kann. Das ist große Kunst, das ist es, was man als Hörer immer will und so selten bekommt: Dem Künstler beim Suchen nach sich selbst beobachten und beim Finden zuhören.

Vielleicht hat gerade das die Jury seinerzeit überzeugt. In vielerlei Hinsicht ist Masleev noch ein Suchender, ein ebenso vorsichtig wie bestimmt sich Vortastender. Was Schwächen einschließt und durchaus typisch ist für die jüngere und mittlere Pianistengeneration - von Ausnahmen wie Daniil Trifonov einmal abgesehen. Das Publikum hat da oft mehr Geduld als die Plattenlabels, die lieber nach dem fertigen Meister schielen. Dabei ist die Entwicklung eines Künstlers und seiner Kunst oft viel interessanter, und es spricht nicht für einen Musiker, ein Stück jedesmal möglichst genau gleich zu spielen. Selbst wenn er der Meinung ist, er habe die endgültige Gestaltungsform gefunden. Gerade die Musik lebt davon, dass es diese absolute Wahrheit hier nicht gibt, nur Richtungen und Grenzen, und selbst die müssen immer ein bisschen verschwimmen dürfen.

In Russland wird immer noch höchste Spieltechnik gelehrt

Es muss jüngeren Musikern auch erlaubt sein, sich den großen Meistern zu nähern, ohne bereits die ganze Tragweite der Werke erfasst zu haben. Ob Martin Stadtfeld sich zu früh auf Bach eingelassen hat oder Igor Levit auf Beethoven, ist dann nicht die Frage. Aber ob sie im Laufe der Jahre hinzugewonnen haben an Erkenntnis und Ausdrucksfähigkeit, das will man nicht nur in Interviews lesen, das will man hören. Nicht nur auf die sinnvollste und ergiebigste Art der Wiedergabe einer Komposition kommt es an, sondern auch auf die Künstlerpersönlichkeit, die einerseits Medium, andererseits selber Kunstgegenstand ist. Vielleicht nicht mit allen Alltagsdetails und Äußerungen, aber doch mit all ihren Facetten künstlerischen Lebens. Private Inhalte und persönliche Überzeugungen sind da weniger relevant als die Fähigkeit, sich auszudrücken, wirksam zu gestalten, das Werk ins Licht zu setzen.

Der Musiker muss kunstvoll vorführen, was er will und kann, nicht nur davon künden. Masleev will nicht einmal über die Werke reden, die er spielt. Dass ihm Sergej Rachmaninow besonders am Herzen liegt, so etwas sagt er schon, aber sein Scarlatti-Spiel ist ebenso aufregend wie das der russischen Großkomponisten, sein unaufgeregt perlender Mozart begeistert, auch wenn er sich als Enkelschüler von Tatjana Nikolaewa fest in der russischen Tradition verankert sieht. Man muss das vielleicht auch praktisch verstehen. In Russland wird noch immer höchste Spieltechnik gelehrt, und wenn man dann einmal soweit ist, dass man mit 14 Jahren ein Rachmaninow-Konzert spielen kann, dann hat man für immer Freude am virtuosen Spiel, begreift es als Freiheit und nicht als Druck, und wenn es um die schiere spielerische Lust an komplexen melodisch-harmonischen Wendungen geht, nimmt man sich vielleicht lieber die Lisztsche Bearbeitung eines Schubert-Liedes vor als das Original. Zumal dann, wenn man spielend erspürt und versteht, wie viel in diesen Bearbeitungen an musikalisch fruchtbarer Auseinandersetzung mit dem Original steckt.

Wenn man also früh die technischen Voraussetzungen erfüllt, kann auch eine musikalisch-künstlerische Entwicklung stattfinden, die nicht auf Mangel und Kompromiss ruht, sondern im Gegenteil noch höhere Schwierigkeit fordert. Wenn mit der Pubertät auch der Drang nach künstlerischer Selbstbestimmung Platz greift, dann ist die Frage, ob sie sich auf Grundlage einer ausgereiften Technik entfaltet oder auf Basis von Unzulänglichkeiten und semiprofessionellen Strategien, die der mentalen Entwicklung hinterherhinken und neben der damit einhergehenden permanenten Frustration diese künstlerische Bewusstseinserweiterung am Ende arg limitieren.

Dann gerät man, bewusst oder unbewusst, womöglich in die Situation, aus technischen Problemen ein künstlerisches Konzept zu entwickeln. Dieser Abgrund bleibt Masleev erspart. Seine neue CD mit dem ersten Klavierkonzert von Dmitri Schostakowitsch, dem zweiten Klavierkonzert des kaum bekannten Nikolai Kapustin und der Jazz-Suite des noch unbekannteren Filmkomponisten Alexander Tsfasman erscheint demnächst in Moskau. Dort, wo sein zweites Leben als Künstler begann.

© SZ vom 27.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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